Während mittels auch deutscher Waffenlieferungen gerade Kriege geführt und somit täglich zahllose Menschen getötet werden, finden sich hierzulande junge Menschen für eine wichtige Hilfe zur Rettung vor einem qualvollen Tod:
Niederbayerns Wirtschaft schlägt Alarm: Jetzt sind auch Jobs in Gefahr
Anmerkung: Die Situationsbeschreibung dieser Pressemitteilung trifft in allen angesprochenen Aspekten auch auf Korbach, Waldeck-Frankenberg, ja auf ganz Deutschland zu. Die jüngsten Wirtschafts-Gipfel-Inszenierungen der Ampel hätten also gespart werden können.
Die Grundstimmung in der Wirtschaft ist ähnlich schlecht wie zur Corona-Zeit, warnt die Industrie- und Handelskammer Niederbayern.
Passau (obx) – Der Arbeitsmarkt in Niederbayern steht vor einer Trendwende. In den vergangenen Jahren stieg die Zahl der Beschäftigten immer weiter. Doch in der aktuellen Konjunkturumfrage der Industrie- und Handelskammer (IHK) Niederbayern zeigt sich: Mehr als jeder vierte Industriebetrieb in Niederbayern (28 Prozent) geht in den kommenden zwölf Monaten von einer rückläufigen Beschäftigtenzahl aus. Bereits jetzt passen immer mehr Betriebe ihre Kapazitäten durch Kurzarbeit oder längerfristig durch Personalabbau an.
Diese Entwicklung steht sinnbildlich für das Gesamtergebnis der neuesten IHK-Konjunkturumfrage, heißt es von der IHK Niederbayern. Der Konjunkturklimaindikator, der die aktuelle Lage sowie die Erwartungen für die Zukunft miteinander verknüpft, ist im Sinkflug und befindet sich demnach 16 Prozent unter dem Durchschnitt. Nur noch 34 Prozent aller befragten Unternehmen bewerten die Geschäftslage als gut, 19 Prozent bereits als schlecht.
Die Erwartungen für die Zukunft bereiten noch mehr Grund zur Sorge: Rund ein Drittel sieht jetzt schon massive Probleme für die Zukunft. „Die Gesamtstimmung in der Wirtschaft ist ähnlich schlecht wie zur Corona-Zeit“, sagt Alexander Schreiner, Hauptgeschäftsführer der IHK Niederbayern. Die negative Entwicklung betrifft alle Branchen, ist aber in der Industrie besonders ausgeprägt. Rund die Hälfte aller Unternehmen verzeichnet sinkende Auftragsvolumina. Auch hier stechen die Zahlen der Industriebetriebe hervor. Ganz gravierend sind die Zahlen im Fahrzeugbau, Zulieferbetriebe mit eingerechnet. Hier berichten knapp 95 Prozent von einem in den letzten sechs Monaten gesunkenen Auftragsvolumen, sowohl im In- als auch im Ausland. 56 Prozent der Fahrzeugbau-Unternehmen melden eine schlechte Geschäftslage, 68 Prozent gehen von sinkenden Beschäftigungszahlen aus.
„Der Wirtschaftsstandort Deutschland gerät im globalen Wettbewerb immer mehr ins Hintertreffen“, fürchtet Niederbayerns IHK-Präsident Thomas Leebmann. Ursächlich sind nach seinen Worten dafür vor allem die sich weiter verschlechternden Rahmenbedingungen, die die Unternehmen in Deutschland vorfinden: Hohe Arbeits- und Energiekosten und überbordende Bürokratie. Hinzu komme inzwischen eine schwächelnde Nachfrage im In- und Ausland.
Nicht nur in der Industrie lassen die Zahlen die Alarmglocken läuten. So macht die Konsumzurückhaltung der Verbraucher etwa dem Handel schwer zu schaffen. Mehr als 80 Prozent der Befragten beklagen ausbleibende Kunden – so viele wie in keiner anderen Branche. Selbst das bevorstehende Weihnachtsgeschäft scheint die Stimmung nicht zu heben. Obwohl die Kaufkraft der Haushalte durch Lohn- und Gehaltssteigerungen in Kombination mit rückläufigen Inflationsraten theoretisch gestiegen ist, bleiben die Umsatzerwartungen laut Umfrage überwiegend pessimistisch.
Im Tourismusgewerbe klaffen die gegenwärtige Geschäftslage und die Erwartungen für die Zukunft weit auseinander. Obwohl die aktuelle Situation als recht positiv beschrieben wird, wird für das kommende Jahr nahezu einhellig mit Einbußen gerechnet.
In Sachen Digitalisierung rangiert Deutschland – noch – auf einem hinteren Platz. Aber digitale Zahlsysteme sind auf dem Vormarsch! Schon mal ein Restaurant besucht, das kein Bargeld annimmt? Oder schon mal versucht, die Rundfunkgebühren bar zu bezahlen? Norbert Häring probierte es und ist dabei (bisher) gescheitert. Auf seinem Blog Geld und mehr berichtet er kontinuierlich über Versuche von Institutionen wie z. B. Banken, EZB und Verwaltungen, den Bargeldverkehr unattraktiv zu machen.
Hier einige seiner jüngsten Beiträge zum Thema Bargeld:
10. 10. 2024 | Immer mehr Menschen zahlen mit Karte, immer weniger tragen Bargeld bei sich. Wenn die Bezahlsysteme nicht funktionieren, stehen sie blank da. Mit der Abkehr vom Bargeld gerät die Gesellschaft in eine gefährliche Abhängigkeit. Die für den Katastrophenschutz Zuständigen beginnen, diese Gefahr ernst zu nehmen.
1. 10. 2024 | Die Deutsche Bundesbank will mittelfristig ein Viertel ihrer verbliebenen Filialen schließen. Das könnte die Akzeptanz von Bargeld im Einzelhandel weiter vermindern. Trotzdem beharrt die Bundesbank auf ihrem Plan, auch gegen interne Kritik.
22. 09. 2024 | Ich habe am 19.9. kurz berichtet, dass das Parlament des Kantons Bern beschlossen hat, dass die Regierung der Berner Bahngesellschaft BLS untersagen muss, auf Fahrkartenautomaten umzustellen, die kein Bargeld akzeptieren. Doch die Regierung lässt die Parlamentarier abblitzen. Die neuen Automaten seien bestellt, eine Rücknahme der schon lange öffentlich kritisierten Bargeldbeseitigungsmaßnahme damit […]
12. 09. 2024 | Wer kein Bargeld mehr benutzt, schaut bei Stromausfall und Störung des digitalen Zahlungsverkehrs in die Röhre und steht ohne Geld da. Das kann sehr unangenehm werden und zeigt die Unvernunft der grenzenlosen staatlichen Digitalisierungswut.
9. 09. 2024 | Der öffentliche Nah- und Fernverkehr ist für alle da. Doch immer mehr Menschen werden ausgeschlossen. Kinder fliegen aus dem Bus, weil sie nicht mit Bargeld bezahlen dürfen. Wer kein Smartphone besitzt, fährt teuer oder gar nicht. Und auf einigen Bürgerämtern geht nur noch Kartenzahlung. Die Bundesregierung bekennt sich zwar vordergründig zum […]
23. 08. 2024 | Die britische Finanzaufsichtsbehörde Financial Conduct Authority (FCA) hat Regeln erlassen, die von den 14 größten Kreditinstituten des Landes ab 18. September regionale Bestandsaufnahmen der Bargeldversorgung verlangen. Wo diese nicht ausreicht, dürfen sie Bargeld-Dienstleistungen nicht abbauen oder müssen zusätzliche anbieten. Bürger und Unternehmen können auf Versorgungslücken hinweisen. Grundlage ist ein vom Parlament […]
28. 07. 2024 | In Thüringen gibt es viele öffentliche Einrichtungen, die kein Bargeld annehmen oder Barzahlern das Leben schwer machen, in Sachsen sieht es nur wenig besser aus. Die Sparkassen agitieren ungebremst weiter gegen Bargeld. Beides können die nächsten Landesregierungen einfach und wirkungsvoll unterbinden.
„Sieh das doch nicht so idealistisch!“ sagte mein Freund Heinz, als er meinen Beitrag Migration und – ja, Heimat – lauter Versuche gelesen hatte, zu mir. „Ist doch nur Eiapopeia. Auch wenn es mit Migration zu tun hat. Das ist ein tiefer liegendes Problem. Was meinst du, warum es Dafür sogar Ministerien in den USA oder Deutschland gibt?“
Na ja. Gerade, kurz nachdem ich begann darüber zu nachzudenken, entdeckte ich einen eher ironisch gemeinten, ganz anderen Aspekt zum Thema, einen zunächst sogar nur lokalpolitischen Artikel über Geschäftemacherei, Kapitalismus eben, mit den Begriffen Heimat und daheim:
Ob Bundespräsident oder Kneipier: Werbung, Propaganda, Wörter-Missbrauch, wohin man schaut! Die Begriffe Heimat und daheim können eben immer auch falsche Versprechungen enthalten.
Diesmal nahm ich mir die Zeit und zum Fotografieren mein Smartphone. Denn schon kurz nach unserem Umzug in die nordhessische Kleinstadtstadt im zweiten Jahr der COVID-19-Pandemie waren mir die Beschriftungen auf den Altglas-Containern am Rande des kleinen Parks, aufgefallen. Bisher aber hatte ich es meist eilig, oder es war kalt, regnete oder ich war mit einem Hund an der Leine unterwegs.
Nun aber nahm ich die sorgfältig, quasi in der Art Schulschrift der 70-er und 80-er Jahre des vorigen Jahrhunderts mit der Hand und weißem Deko-Stift geschriebenen, immer noch gut sichtbaren, etwa in Hüfthöhe akkurat wie auf Linie angefertigten Beschriftungen bewusst wahr.
Sie entzündeten in mir die Frage, wer sich denn und warum wohl diese Mühe machte, vermutlich am helllichten Tag auf einem Hocker sitzend, wenn Jogger oder andere, Spaziergänger oder Familien mit Kindern oder Hunden vorbeikämen, gerade hier die – zuvor daheim ausgesuchten – Zitate zu veröffentlichen.
Da wird Alexander von Humboldt, der Forschungsreisende, Humanist und Begründer der Schulpflicht in Preußen, als Pionier des Tourismus gedeutet.
An auffälligster Stelle des „Weißglas“-Containers fällt jedoch das Zitat der mexikanischen Malerin Frida Kahlo auf, in dem ebenfalls unser natürliches Sehen mit seinen oberflächlichen Schlussfolgerungen in einem Satz thematisiert wird.
Außer dem Entdecker und der Malerin kommt sogar noch der englische Schriftsteller Oscar Wilde als Gesellschaftskritiker mit einer immer noch richtigen Erkenntnis zu Wort:
Es gibt bestimmt Graphologen, die feststellen könnten, ob die Beschriftungen mit ihren rundlichen Formen tatsächlich von einer Frau stammen. Und ob die eigentümliche Verkürzung der Umlaut-Punkte zu einem Querstrich vielleicht sogar auf ihren ungefähren Jahrgang schließen ließe.
Jedenfalls lässt die Auswahl der Themen und deren Autoren auf eine Person mit einer tieferen kulturellen Bildung schließen – aber was erhoffte sie bei den zufälligen Lesern ihrer Posts zu erreichen?
Vielleicht ging und geht es manchen wie mir: Wer sind denn die zitierten Autoren? Von der mexikanischen Malerin und vom deutschen Begründer der humanistischen Bildung hatte ich ja schon eine Vorstellung. Zum ersten Mal habe ich mich aber nun näher mit Walt Whitman beschäftigt, dem viel gelobten und von berühmten Komponisten oder Songwritern vertonten amerikanischen Poeten.
Die amerikanische LGBTQ-Bewegung reklamiert ihn heute als einen ihrer Vorläufer. Die Brücke, die den Delaware River zwischen Philadelphia und Gloucester City, New Jersey, in der Nähe von Whitmans Wohnhaus in Camden, überspannt, trägt seinen Namen ebenso wie ein Krater auf dem Merkur.
Was ist deine Heimat? „Äthiopien, Deutschland ist die zweite“, bekennt Biruk Mengistu Kebede mit einem nachdenklichen Lächeln, der – weil daheim politisch verfolgt – seit 2015 hier lebt. Von ihm hängen in der Bad Wildunger Stadtkirche unter dem Titel „Heimat“ derzeit bis zum 20. Oktober dieses Jahres mehrere seiner eindrucksvollen Gemälde. Jene mit den Frauenfiguren, meist Schwestern Kebedes und deren Freundinnen, strahlen eine eigentümliche Sehnsucht aus.
Was ist noch – oder schon – Heimat? Einen Migrationshintergrund haben ja genau genommen in Deutschland nicht nur Asylbewerber, Kriegs- und Armutsflüchtlinge. Oder „Gastarbeiter“ aus Spanien, Griechenland, Italien und der Türkei kamen als Menschen. Sie haben jetzt auch Familien, teilweise schon in der dritten Generation.
„Die Auseinandersetzung darüber, welchen Begriff von Heimat wir verwenden wollen, was wir meinen, wenn wir uns über Heimat unterhalten oder auch streiten, ist ein Schlüssel für die Kultur einer kommenden Gesellschaft. Die extreme Rechte versucht, den Begriff seit geraumer Zeit im Sinne einer „völkischen“ Ideologie von „Blut und Boden“ zu besetzen und sie als politische Waffe gegen einen angeblich heimatlosen, verräterischen Liberalismus einzusetzen, der nur kosmopolitisches und grenzenloses Chaos verspreche. Gleichzeitig freilich ist „Heimat“ ein Geschäftsmodell, das Tourismus, mediale Heimatfantasien und industrielle Folklore gewinnbringend einsetzt.
Diesem zweifachen Missbrauch kann man begegnen, indem man den anderen, den humanistischen, offenen und utopischen Begriff wieder in sein Recht setzt, der genauso tief in unserer Kultur verankert ist wie der regressive und chauvinistische. Für einen allgemeinen Dialog wäre schon viel gewonnen, wenn uns klar ist, wie viele unterschiedliche Dinge gemeint sein können, wenn von Heimat die Rede ist.“ So Markus Metz und Georg Seeßlen in: Heimat – der offene Begriff; Deutschlandfunk.
Hierher gehört jetzt ein ganz aktuelles Zitat von Heribert Prantl, dem Juristen und Kolumnisten der Süddeutschen Zeitung, vom 06.10.2024 in seiner online-Kolumne „Prantls Blick“:
Ein Aha-Erlebnis nach dem anderen
Keiner kann dem Autor Hein de Haas vorhalten, er wisse nicht, wovon er rede. Ich hätte es an einigen Stellen gern getan, gebe ich zu. Zu wissen, wovon man redet, ist immer wichtig, besonders aber, wenn es um Migration geht. Das ist ein Thema, bei dem die meisten meinen, sie wüssten Bescheid, bei dem Wissensstärke und Meinungsstärke aber oft nicht Hand in Hand gehen. Der niederländische Sozialwissenschaftler und Geograf Hein de Haas forscht seit drei Jahrzehnten zum Thema Migration, nicht nur vom Schreibtisch aus, sondern in zahlreichen Feldstudien weltweit. Er lehrte in Oxford, wo er auch die Co-Leitung des International Migration Institute innehatte, und ist gegenwärtig Professor für Soziologie in Amsterdam und Professor für Migration in Maastricht. De Haas ist also hochkompetent, und er ist stinksauer darüber, wie die Diskussion geführt wird, nämlich als Pro-und-Kontra-Debatte für oder gegen Migration. Dies sei ähnlich dumm, wie für oder gegen Wirtschaft, für oder gegen Landwirtschaft oder für oder gegen Umwelt zu diskutieren, stellt er fest.
Sein Ärger ist einer der Gründe, warum de Haas sein Buch geschrieben hat: „Migration. 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt.“ Das Buch ist so stark und so lehrreich, dass es eine längere Besprechung verdient, als sie hier an dieser Stelle üblich ist. „Wie oft ist es mir passiert“, schreibt de Haas, „dass Politiker im Anschluss an einen Vortrag auf mich zukommen, mir zu meinem ‚großartigen Vortrag‘ gratulieren und im selben Atemzug hinzufügen: ‚Das könnten wir natürlich niemals umsetzen, das wäre ja politischer Selbstmord.‘ Daher wende ich mich in diesem Buch direkt an Sie, die Bürgerinnen und Bürger“. Das Buch von Hein de Haas empfehle ich Ihnen nicht, weil es mich in meinen eigenen Meinungen bestärkt – das tut es durchaus, aber manchmal auch nicht. Ich empfehle es Ihnen, weil es mich in einigen meiner Meinungen irritiert und mein vermeintliches Wissen korrigiert hat. Wenn de Haas am Anfang seiner Kapitel (die man übrigens nach Gusto jedes für sich lesen und auch einige überspringen kann) den jeweiligen Migrationsmythos darstellt, habe ich mich manches Mal ertappt gefühlt: Das denkst du doch auch …
Ein Beispiel: Auch ich meine, Entwicklungshilfe, Bildung, Armutsbekämpfung seien Mittel, Migration einzudämmen. Schließlich verbessere man damit die Bedingungen in den Herkunftsländern und vermindere Faktoren, die die Menschen zum Verlassen ihrer Heimat zwingen – denn eines der Hauptmotive von Zuwanderern sei, dem Elend zu entkommen. So dachte ich. Nach de Haas weit gefehlt: Zunächst sei Entwicklung ein Motor für Migration, weil er die Menschen erst in Stande setze, mobil zu werden, sowohl was ihre Ressourcen, als auch was ihre Motivation betreffe. Erst wenn ein Land ein gewisses Maß an Wohlstand erreicht hat, wird es von einem Auswanderungsland zu einem Einwanderungsland, siehe Italien. Überhaupt sind, folgt man de Haas, nicht Armut und Ungleichheit die Treiber für Migration, die ohnehin überwiegend Binnenmigration und nicht Richtung Europa gerichtet ist. Treiber für Zuwanderung, sowohl für erwünschte als auch für unerwünschte, ist die Nachfrage nach Arbeitskräften in Einwanderungsländern. De Haas nennt es das bestgehütete offene Geheimnis der westlichen Gesellschaften, dass Arbeitgeber und Personalagenturen aktiv um ausländische Arbeitnehmer werben, weil Migranten wichtige Arbeiten in systemrelevanten Branchen übernehmen. Zuwanderungsbeschränkungen werden deswegen die Zuwanderung nicht aufhalten; sie sorgen nur dafür, dass die illegale Zuwanderung steigt: „Politikern fällt es schwer, diese Wahrheit auszusprechen, denn damit würden sie ihrer Behauptung widersprechen, dass es für diese Migranten keine Arbeit gibt. Das ist eine Lüge, und das wissen sie auch. Die Wahrheit ist, dass unsere reichen, alternden und gebildeten Gesellschaften eine strukturelle Nachfrage nach Arbeitsmigranten entwickelt haben, die sich nicht beseitigen lässt, solange das Wirtschaftswachstum anhält. So gesehen ließe sich die Zuwanderung am wirkungsvollsten drosseln, indem man die Wirtschaft abwürgt.“
Wie gesagt, dies ist ein Beispiel.
Gönnen Sie sich ein Aha-Erlebnis nach dem nächsten und die Freude, sich irritieren und korrigieren zu lassen und am Ende etwas schlauer zu sein. Gönnen Sie sich einen rasanten Ritt durch die Geschichte der Migration und ihre unterhaltsam aufklärerische Entmythologisierung. Gönnen Sie sich Hein de Haas‘ neues Buch, das sich lesen lässt wie ein Schmöker – und das einen durchaus optimistisch zurücklässt.
Hein de Haas, Migration. 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt. Das Buch hat 512 Seiten und ist im vergangenen Herbst im Fischer Verlag erschienen. Es kostet 28 Euro.
Seit der „Corona-Pandemie“ kann man es an an der Supermarkt-Kasse immer öfter erleben, wie jemand „kontaktlos“ mit seiner Bankkarte bezahlt. Manchmal hat man selber auch zu wenig Bares dabei. Etwas seltener wird schon mal nur das Smartphone vor das Lesegerät gehalten. Über manchen Kassen – und auch schon in Restaurants – ist zu lesen: Bitte zahlen sie kontaktlos! Meine letzte Fahrkarte für die Bahn bekam ich nur, weil ich auf dem Handy mit meiner Email-Adresse erreichbar war. Das Wunderding mutiert schon zum Allzweckmittel,
Die im folgenden – von Norbert Haering verlinkten – Artikel beschriebenen Beispiele, Situationen und Zustände zeigen, wie dahinter ein klandestines und ungesetzliches Bestreben nach der Bargeldabschaffung steckt.
Im letzten Absatz gibt es auch den Link zu einer Petition für den Erhalt des Bargeldes als allgemeines Zahlungsmittel: https://bargeldverbot.info/petition
Ein Gespenst geht um in Deutschland – das Gespenst der Delegitimierung. Wer wissen möchte, was denn das sperrige Fremdwort bedeutet, das in letzter Zeit so gerne sowohl von Angehörigen der „Ampel-Koalition“ als auch mit ihr sympathisierenden Journalisten in Talkshows zur Rechtfertigung allerlei fragwürdiger behördlicher Maßnahmen gebraucht wird, könnte sich zum Beispiel im Netz schlau machen und googeln.
An oberster Stelle bringt die Suchmaschine bereits die Position des Verfassungsschutzes:
Hier wird die Legitimierung und deren Negierung zunächst allgemein, sodann in Bezug auf Staatshandeln juristisch und die historische Verwendung betrachtet.
Wikipedia priorisiert dagegen sogleich die Definition des Verfassungsschutzes:
Dabei werden die politischen Maßstäbe Links- und Rechtsextremismus entlang der – seit den „Berufsverboten“ in den 1970er Jahren – offiziellen Definitionen erläutert und gegen das Recht auf private Meinungsäußerung abgegrenzt.
Es ist sicher nützlich zu wissen, dass legitim im Gegensatz zu legal (sowie deren Negationen) nichts mit staatlichen Gesetzen zu tun hat. Bei bedeutungonline.de ist als Beispiel-Erläuterung für „allgemein anerkannt, unbestritten, berechtigt“ das folgende, leider nicht nachgewiesene Zitat zu finden:
„Formell war er [Claus Schenk Graf von Stauffenberg] ein Hochverräter, aber ich halte das, was er getan hat [das Attentat auf A. Hitler am 20. Juli 1944], für legitim.“
Hierher gehört nun ein nachdenklicher Essay der aktuellen Berliner Morgenpost, in dem nicht nur auf die zahlreichen höchst unterschiedlichen Widerständler verwiesen wird, sondern auch deren Legitimität durch die moralische Motivation für den Mord des Diktators begründet wird.
Formell also waren die Attentäter nach der Gesetzeslage Hochverräter. Denn im NS-Staat galt das (von den Nazis) geschriebene Gesetz. Für ihre Motivation gibt es den kategorischen Imperativ Immanuel Kants (1724 bis 1804). Dieser größte deutsche Philosoph und Aufklärer geriet allerdings durch diese Erkenntnis in Konflikt mit den damals Mächtigen in Kirchen und Staat.
„Der Begriff „kategorisch“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass der Imperativ bedingungslos und allgemeingültig ist. Kant behauptet, dass moralische Handlungen auf einer universalen moralischen Gesetzgebung basieren sollten, die für alle rationalen Wesen gleichermaßen gilt. Der kategorische Imperativ fordert die Menschen auf, nach moralischen Prinzipien zu handeln, die universell anwendbar sind, unabhängig von den individuellen Umständen.
Kants kategorischer Imperativ basiert auf dem Prinzip des Autonomie. Kant argumentiert, dass die Menschen rationale Wesen sind, die die Fähigkeit haben, unabhängig von ihren individuellen Wünschen und Neigungen moralische Entscheidungen zu treffen. Der kategorische Imperativ soll Menschen dazu anleiten, moralisch zu handeln, indem sie vernünftige, allgemeingültige Prinzipien anwenden.“ (Quelle: das-wissen.de)
Somit haben wir auch einen Maßstab für legitimes staatliches Verhalten und Handeln, wenn Menschen – und nicht nur die Staatsbürger – entsprechend Kants Aufforderung nun, in der sich demokratisch nennenden Staatsform, den „Mut haben, sich des eigenen Verstandes zu bedienen“ und gegen die Obrigkeit Widerstand signalisieren. Allein in der Frage, ob ein gewisses Regierungshandeln – etwa mittels Gesetzen oder Verordnungen – legitim ist, steckt noch keine „Delegitimiereung“.
Aus den schönsten Zeiten eines Kriegskindes – Wulf Eggerts Bericht über eine besondere Idylle – posthum.
Der insbesondere von (west-)deutschen Wissenschaftlern – Psychologen, Soziologen und Historikern – geprägte Begriff Kriegskinder bezeichnet Menschen, die mit ihren im zweiten Weltkrieg überlebten traumatischen Erlebnisen – wie beispielsweise Bombardierungen oder Flucht – in ihrem weiteren Leben zurecht kommen müssen.
Angesichts der aktuellen, grausamen Nachrichten und Bilder, die uns aus der Ukraine und Nahost erreichen und bedrücken, möchte man jenen Kindern wünschen, auch ähnlich fröhliche und befreiende Hilfen in ihrer Jugend kennen zu lernen.
Somit gilt 1941 als ein Jahrgang der Kriegskinder, zu dem ja auch ich gehöre, denn diese hatten gerade in den Jahren nach Ende des zweiten Weltkriegs allgemein unter den herrschenden Wirrnissen gelitten. Wulf Eggert war bereits im Kinderhaus in Imshausen bei Bebra, als ich aus dem kaputten Elternhaus mit meinen Albträumen von Bombardierungen Anfang November 1950 dazu kam. Wir verstanden uns von Anfang an ausgezeichnet, waren fast gleich alt und bis zu seinem Tod 2020 enge Freunde. (Wegen der damaligen abscheulichen und grundgesetzwidrigen staatlichen Maßnahmen mit Lockdowns usw. durften wir nicht an seiner Beerdigung teilnehmen!)
Nachdem er schließlich als behördlicher Sozialarbeiter trotz vieler schwieriger Umwege Rentner geworden war, nutzte er unermüdlich den Computer dazu, von seiner Lebensgeschichte zu erzählen. Dankenswerterweise schenkte er mir eine der dabei entstandenen CDs, aus der ich im Folgenden den Ausschnitt aus unserer gemeinsamen Jugendzeit anbiete. Es würde ihn ganz bestimmt amüsieren zu sehen, wie auf diesem Blog seine nachdenklichen und humorvollen, aber auch hintergründigen Beschreibungen weltweit und für immer veröffentlicht werden. Dass er es dabei konsequent vermied, manches der Rechtschreibreform von 1996 zu befolgen, stört nur anfänglich.
Wulfs ausgeprägte Musikalität spiegelt sich in mehreren ausführlichen, interessanten Passagen über den Alltag und das damals vielfältige Singen im „Kinderhaus“. Auch die teils skurrilen Schilderungen der Dorfschule und des Lehrers sind gelungen. Viele Erlebnisse waren mir gar nicht mehr in Erinnerung!
Wulf Eggert: Imshausen
Die beiden Aufenthalte in Imshausen – Mai bis August 1950 und Januar 1952 bis Ostern 1953 – gehören für mich zu den schönsten Zeiten meines Lebens.
Hanna1 brachte mich 1950 dorthin. Völlig unbeeindruckt vom regnerischen Wetter spielte ich dort gleich glücklich mit zwei Jungen im lehmigen Matsch, während Hanna sich mit Vera von Trott [der Schwester des Widertsandskämpfers Adam von Trott zu Solz, der am 20. Juli 1944 am Attentat auf Adolf Hitler beteiligt war und als Außenminister der neuen Regierung vorgesehen, danach von den Nationalsozialisten hingerichtet wurde. Anm. M. Z.] unterhielt.
1952 wurde ich altersgemäß zu den „Thingjungen“ gegeben.
Anmerkung: 1950 sah das Herrenhaus etwa so aus. Das Foto stammt aus dem Buch „Ein Leben für die Freiheit“, Bärenreiter-Verlag Kassel, 1960; Ganz rechts steht der im Bericht später erwähnte „Bruder „Hans“, von rechts die siebte Person ist Vera von Trott zu Solz.
Nach und nach lernte ich das Anwesen kennen, den Trottenpark mit den zwei Schlössern im englischen Landhausstil, alten Bäumen, auf denen man wunderbar klettern konnte, ein Bach in der Mitte, den wir, an Ästen einer Hängebuche uns festhaltend, überquerten, der Hof, angrenzend an das Anwesen des Pächters Penke, der bald bepflastert wurde, Hühnerstall, Schweinestall, Paradiesgärtchen und die große Ulme, die mehrere hundert Jahre alt sein sollte. In der Dorfschule, die für die Grundschulkinder nachmittags stattfand, verstand ich anfangs den von den Kindern gesprochenen Dialekt, dem Thüringischen verwandt, überhaupt nicht, umgekehrt löste ich langanhaltendes Gelächter aus, wenn ich mit meinem „Frankfodderisch“ loslegte. Untergebracht waren wir für’s erste im „Kaminzimmer“, wo der Kamin aber noch verkleidet war. Man hatte hier sechs Stockbetten aufgestellt für die Jungen. Die Mädchen lebten im zweiten Obergeschoß des Schlosses, im „Schafstall“. Mit uns im Raum schlief Wolfgang, Student der Landwirtschaft, der uns mit Eva, einer angehenden Floristin, betreute.
Morgens begann um 7 h der Tag auch für uns Kinder mit dem Absingen der „Laudes“, dh. im Psalmierungston wurden vorgegebene Texte, unterbrochen von Antiphonen2 und Hymnen, gesungen. Während dieser halben Stunde war mir immer schon ganz schlecht vor Hunger. Zum Frühstück gab es dann Haferbrei oder Schrotsuppe, Zucker, Milch und Margarinebrote. Danach sollten wir die Hausaufgaben anfertigen, denn nachmittags um 14 h begann für Kinder im Grundschulalter die Schule. Das Mittagessen, das die gesamte Hausgemeinschaft – damals etwa 25 Personen – gemeinsam in der Empfangshalle unter einem riesigen Wildschweinkopf einnahm, leitete Bruder Hans mit einem Gebetsruf – „Bene dicte“ – zum Danken ein, in das die Hausgemeinde einstimmte. Vera von Trott erschien nun auch und setzte sich in die Mitte der Tafel. Abends nach dem Abendessen sah man sie wieder in der „Abendfeier“, deren Atmosphäre die nachfolgende Schilderung beschreibt.
„Das lebengestaltende Element der Liturgie3 hat … seine ganz bestimmte Form angenommen: in der Abendfeier. Groß und Klein freut sich den ganzen Tag auf diese abendliche Feierstunde, von der man etwas Bestimmtes erwartet, die aber auch immer Überraschungen bringt. Nach dem Nachtessen versammelt sich alles in dem großen Festraum des Hauses, der die vier Wände entlang Stühle und Bänke enthält; außerdem nur das kleine Positiv und den Altartisch, der immer mit Blumen geschmückt ist. Wenn alle da sind, beginnt man im Licht der Wandleuchter mit Singen.“
Die Abendfeier fand stets im „Wohnzimmer“ statt, wo bis zur Fertigstellung der „Krypta“ auch donnerstags und sonntags die lutherische Messe gefeiert wurde.
Der Hausvater [„Bruder Hans“] schlug, als ich kürzlich wieder dort war, den Satz von Gerhard Schwarz4 (einem besonderen Freund des Hauses) zu dem Storm-Text „An die Freunde“ mit dem Schluß der heimlichen Liebesbande „von Land zu Land“ vor. Das Kleinste der Kinder, ein blonder Lockenkopf, das überall hinter dem Hausvater hertrappelt, wenn er die Bücher holt und austeilt, und während des Singens zu seinen Füßen auf dem Boden sitzt, wünscht das „Klopfe, klopfe, Ringelchen“. Es schließen sich die Lieder der Jahreszeit und des Kirchenjahres an, das Septemberlied von Schwarz, das Michaelslied, und das „Heut singt die liebe Christenheit“ leiten über zum Abendgebet, zu dem eines der Kinder die Leuchter auf dem Altar anzündet, während die Wandleuchter gelöscht werden. Die Kinder sprechen nach der Abendlesung unaufgefordert, deutlich aber verhalten ihre Nachtgebetlein, ein größerer Junge einen Psalm, auf den alle mit dem „Ehre sei dem Vater . . .“ antworten. Es folgen gemeinsam gesprochen ein Abendgebet um einen ruhigen tiefen Schlaf und gute Träume oder das Vater Unser, worauf der Hausvater mit dem Kreuzeszeichen den Segen erteilt.- Als ich das erste Mal in der Untermühle5 war, am Vorabend von Christi Himmelfahrt, begann die Abendfeier damit, dass ich einiges auf dem Positiv [kleiner Orgel] spielte. Danach sangen wir alle Oster- und Himmelfahrtslieder aus dem „Gölz“6. Die größeren Kinder sangen überall den cantus firmus oder auch den Alt mit, während die kleineren auf dem Schoß der Hausmutter oder einer der Helferinnen lagen, andere auf dem Boden. Bald schliefen die Kleinsten ein. Aber ob sie sangen, zuhörten oder schliefen, alle waren sie gleicherweise glückselig und im Frieden geborgen. Die Helferinnen trugen dann die Schlafenden in ihre Betten… Ein anderes Mal wird in der Abendfeier eine Geschichte erzählt oder etwas vorgelesen. Es herrscht im Vertrauen auf das Walten des Heiligen Geistes und auf Gottes heilige Engel über diesem Hause eine große Freiheit neben der strengen Form der gottesdienstlichen Liturgie, die „Freiheit der Kinder Gottes“, nicht nur in diesen Abendfeiern, die ähnlich wie die ganz anderen Formen in Taizé7 ebenso wohltuend wirken durch die große Natürlichkeit, die allen geistlichen Krampf ausschaltet, sondern im Leben des ganzen Tages, in das die Liturgie einbezogen ist und ihre Kräfte ausstrahlt.8
Vera von Trott und Kirchenmusikdirektor Gerhard Schwarz bei einem ihrer Geburtstagsfeiern
Die Liturgie strahlte aber auch etwas Verführerisches aus. Vera ließ den Kartoffelkeller im Schloss Ende der 50er Jahre in eine Krypta mit bogenförmiger Decke umbauen und verlegte die Feier der Deutschen Messe, wie sie angeblich noch Luther gefeiert habe, hierhin. Aber unter dem Einfluss griechisch-orthodoxer Kirchlichkeit wurde dieser Gottesdienst noch feierlicher ritualisiert. So erhielten wir zum Besuch weiße Überhänge. Es wurden standardisierte Texte aus den Psalmen und dem Neuen Testament durch Gerhard Schwarz vertont, die Psalmodierung, an der die gesamte Hausgemeinschaft beteiligt war, geschah vierstimmig, während zwischen den einzelnen Abschnitten Antiphone unisono gesungen wurden.
Der Gesang hallte von der bogenförmigen Kryptadecke dumpf zurück, trug so den Klang und das jagte mir regelmäßig leichte Schauer der Ergriffenheit ein. Man hatte dabei, trotz oder auch wegen des Sauerstoffmangels, der verschiedentlich auch Ohnmachtsanfälle auslöste, das Empfinden, in einer abgehobenen Welt zu sein. Gerhard Schwarz, das muss man einfach sagen, fand mit seiner schlichten, aber doch feierlichen Sakralmusik – er komponierte auch die „Seligpreisungen“ der Bergpredigt – einen ausdrucksvoll-überzeugenden Weg, der das Erleben der Abgehobenenheit verstärkte.
Unser Jungen-Leben
Es war auch sonst ein reichhaltiges Leben im Kinderhaus. Wir sammelten gemeinsam Beeren, Wildkirschen, Pilze und Holz für den 1952 errichteten Saunaofen. Wir beteiligten uns bei den umliegenden Bauern an der Kartoffel- und Rübenernte, wobei wir dazuverdienen konnten. Einer von uns, Gerhard, hatte das Hausschwein, das mit Küchenabfällen gefüttert wurde, vollständig zu versorgen und erhielt für diesen Dienst nach der Schlachtung eine Bratwurst, die „von einem Ohr zum anderen“ reichte. Darauf war er sehr stolz und wurde von uns beneidet. Die Hühner fütterten wir alle gerne, 1952 war ein Jahr der Maikäferplage. Wir sammelten die Käfer tütenweise und gaben sie den Hühnern zu fressen, wonach dann auch die gelegten Eier schmeckten. Wir unternahmen Wanderungen im umliegenden Waldbergland, besuchten den Ahlheimer bei Rotenburg, die Boyneburg bei Nentershausen, das stillgelegte Kupferbergwerk bei Iba, wo man Versteinerungen fand, machten Lagerfeuer, sogar bei klirrenden Frost, und brieten darin Kartoffeln, kochten „süße“ Holzbirnen.
Manuel und ich, wir sonderten uns gerne ab, einmal im Januar stopfte uns Liese, die der Küche vorstand, einen Proviantkorb voll, damit wir uns einen Tag lang im Steinbruch am Feuer zureichend ernährten. Aber uns ging es ums gegenseitige Vorlesen: Die Geschichte von der Eroberung Konstantinopels durch die Türken, Mitte des 15. Jahrhunderts. –
Fester Bestandteil unseres Jungenlebens waren Geländespiele und Vorleseabende, bei denen „Sigismund Rüstig“, „Lederstrumpf“, „Gullivers Reisen“, „Griechische, römische und germanische Heldensagen“ und nicht zuletzt die Abenteuer des „Seeteufels“ Felix Luckner und die spannenden Märchen aus „1000 und 1 Nacht“ sich großer Beliebtheit erfreuten. Bruder Hans war belustigt, als ich mir vor lauter Begeisterung aus seiner Bibliothek die von Voss in Hexameter gebrachte deutsche Standard-Übersetzung der „Ilias“ ausbat, deren schwingend-poetische Sprache ich natürlich überhaupt nicht verstand. Hans-Georg, ein Schreinergeselle, der uns ab 1952 mit Barbara Kubale9 betreute, entwickelte zusätzlich ein außergewöhnliches Erzähltalent.
Beim ersten Aufenthalt hatte ich noch Mühe, mit den rauhen Jungenspielen klar zu kommen. Oft zog ich mich zurück oder wollte nicht aus dem Bett aufstehen. – Gerhard, der aufgrund seelischer Störungen noch einnäßte, wurde einmal in der Waldschonung an den „Marterpfahl“ gefesselt und mitgeteilt, dass nun die Wildschweine kommen und ihn anknabbern. Aber nach einer halben Stunde befreiten wir ihn wieder. Während des zweiten Aufenthalts bekam ich in der Gruppe anfangs häufig Wutanfälle und erhielt dann manchmal „Zimmerkeile“, bis ich meine Rolle gefunden hatte.
Ich war Spezialist für das Anfertigen von Waffen, wußte, wo die geeigneten geraden Haselnußstecken für Flitzebogen und zum Beschnitzen als Wanderstecken wuchsen, hatte bald einen Fänger10 aus gesuchtem „SS-Stahl“ mit Hirschhorngriff, baute Steinzeitschleudern, kleine Schiffe, schmiedete Sparrennägel um zu flachen Speerspitzen, wußte, wie man Beile scharf schliff und anschließend die Schleifreste von der Klinge abzog, ferner konnte ich Schalmeien aus Weiden und in der Tonhöhe veränderbare Flöten aus Holunder schnitzen.
Irgendwann bekam ich Konkurrenz in meinen Erfindungskünsten. Niels kam aus Berlin; er wußte alle Arten von Sauriern zwischen Tyrannosaurus rex und Triceratops, war beschlagen in Astronomie und bewies mir oft, dass meine Annahmen über die Welt völlig abwegig waren. Er hatte auch mal was von Relativitätstheorie gehört, aber das von ihm Ausgeführte verstand ich schon gar nicht mehr. Wie sollten denn, wenn man zwei Tage mit dem Raumschiff in Lichtgeschwindigkeit unterwegs war und wieder zurückkehrte, auf der Welt 200 Jahre vergangen sein? Niels blieb mir dafür den Beweis schuldig und ich verbreitete die Ansicht, dass er wohl manchmal eine Schraube locker hatte.
Sehr still war Siegfried. Irgendetwas sollte mit seiner Mutter nicht in Ordnung sein. Man kam nicht an ihn heran, meist lächelte er dünn, hob die Hände zur Gebetshaltung und ging einfach weiter, wenn man ihn ansprach.
Richard, der viel von zuhause erzählte, sehe ich aus meiner jetzigen Sicht als Mißbrauchsopfer seines Vaters an. Er war sehr lustig, lachte immer und war ein guter Kumpel.
Peters Vater war in Kriegsgefangenschaft, seine Mutter musste arbeiten. Sein älterer Bruder
Jochen hielt sich in der Kumpaney auf. Peter war der Intelligenteste von uns. Er konnte sehr rasch Kopfrechnen, setzte ein neues Fahrrad aus vielen alten Einzelteilen selbständig zusammen, konnte Noten lesen und schon recht sicher vom Blatt singen. Er bekam auch bald Klavierunterricht und sollte zum Gymnasium, wozu ihm Bruder Hans vorsorglich Lateinunterricht gab. Als Neffe von Bruder Hans genoss Peter in der Thingjungen-Gruppe eine Sonderstellung. Er war umgänglich, hielt sich aber bei keinem auf und schloss auch mit keinem engere Freundschaft. Er raufte oft mit Manuel um die Gruppenführung. Ich habe jetzt im Internet herausgefunden, dass er zunächst Toningenieur war, dann aber zum Sprachwissenschaftler umsattelte. Manuel war der Stärkste, groß, sehr eigenständig, ein hübscher Kerl. Von zuhause genoss er nicht viel Unterstützung, und Barbara wurde ihm allmählich zur Ersatzmutter. Ich bewunderte seine Kraft bei Prügeleien mit den Dorfjungen, von denen oft mehrere auf ihn losgingen und die er mit geschickter Drehwendung alle auf den Boden sinken ließ. Ich war erschreckt und amüsiert zugleich, wenn er in ungestümem, zu wenig kontrolliertem Eifer über das Ziel hinausschoss.
Mit dem Lateinunterricht, den meine Eltern für mich erbaten, war es zunächst nicht weit her. Schließlich erklärte sich Dr. Burckhardt, ein enger Bekannter von Bruder Hans11, dazu bereit – ein mühsames Geschäft, weil mir jede Grundkenntnis von deutscher Grammatik fehlte12.
Streiche waren an der Tagesordnung. Dazu ein Beispiel:
Eines Tages tauchte André, der Orgelbauer, auf. Er hatte seit einem Motorradunfall ein steifes Bein, und erhielt von uns den Spitznamen „Waldschrat“. Er war auch ein bißchen eigen. Er erkannte rasch meine Musikalität, mein Interesse an Orgeln und bat mich, ihm bei der Reparatur der Dorfkirchenorgel im zwei Kilometer weit entfernten Ort Solz zu helfen. Dort war ihm nämlich beim Spielen ein Mißgeschick passiert. Als er die leicht verstimmbaren Zungenregister nachstimmen wollte, stolperte er und stürzte in die Holztrakturen13. Bei der Reparatur und dem Einbau neuer Trakturleisten entwickelten sich aber sogenannte Heuler, dh. obwohl ich nur eine Taste drückte, erklangen zwei, manchmal sogar drei Pfeifen gleichzeitig, oder noch schlimmer: Man stellte den Motor für den Blasebalg an und sofort erklangen die Heuler. Wir mussten etwa vier Tage herumbasteln, bis die Trakturen wieder einwandfrei liefen und nicht mehr aneinander hängenblieben. Natürlich hatte ich den anderen Jungen davon erzählt. Eines Nachts wachte ich durch ein scharrendes Geräusch im Schlafraum auf. Mir gegenüber an der Wand schlief André, nein er schnarchte ganz erbärmlich. Dann bemerkte ich, wie sich unter sein Bett ein Schlauch schob – , es begann ein Pfeifengejammere und eine dumpfe Stimme sagte: „Ich bin der Heuler aus Solz! Warum hat du mich zurückgelassen?“ André schreckte hoch, das Flötengejammere verstummte, setzte aber sofort wieder ein, wenn André erneut Schnarchtöne von sich gab. Am Morgen wurde der Schlauch gefunden. Man hatte an seinem Ende einen Blockflötenkopf befestigt.
André war von eigensinniger Eigenwilligkeit. Ruth, die Organistin von Lichtenau, bei der ich später während des Diakonischen Jahres erstmals Orgelunterricht nahm, hatte mit ihm zusammen an der Kirchenmusikschule Schlüchtern studiert. Eines Tages habe es eine aufgeregte Konferenz unter den Dozenten wegen André gegeben. André war nämlich nachts in die Konzertorgel der Kirchenmusikschule eingestiegen und hatte ein Zungenregister kurzerhand von der 16-Fuß Bombarde zum 8-Fuß-Trompetenregister gestutzt, indem er einfach die Klangbecher um die Hälfte absägte. Man wollte ihn zunächst relegieren, aber dann entdeckte ein Dozent die melodische Schönheit der so zurechtgeschnittenen Trompete und André erhielt nun sogar Belobigungen. – Bei allem erfahrenen Pech in seinem Leben winkte schließlich auch André das Glück in der holden Gestalt einer jung verwitweten Lehrerin, achtjähriges Töchterchen inbegriffen. Er fackelte nicht lange, heiratete die Frau und hatte rasch eine Stelle als wohlbestallter Organist in Bad Lippspringe. Danach verlor ich zu ihm den Kontakt.
Die zentrale Persönlichkeit der Hauswirtschaft war Liese. Sie war schon als junges Mädchen aus dem Dorf in den Haushalt der von Trotts gekommen14, hatte sich hier mit Vera angefreundet und ihr treu zur Seite gestanden. Bescheiden, freundlich, aber in dem, was sie sagte, bestechend klar und realistisch, leitete sie energisch die Küche und die Wäscheversorgung, sorgte dafür, dass auch die Männer mit Abspülen am Sonntag ihren hauswirtschaftlichen Beitrag leisteten und scheuchte uns Jungen konsequent aus der Küche, wenn wir hier unsere Schmalz- und Marmeladenbrote auf der Herdplatte rösteten. Sie behielt auch den Garten mit reichhaltigem Gemüseangebot im Auge, dh. wir Jungen hatten auch dort mitzuhelfen.
Dorfschule
1952 wurde ich in der Dorfschule der Klasse 5 bis 8 zugeordnet. Der Unterricht, ausgeführt vom Lehrer Eckart mit Kaiser-Wilhelm-Knebelbart und Knobelbechern, begann morgens mit zwei Stunden Gesang. Er traktierte dazu das Harmonium, während wir in großem Kreis um ihn herum saßen. Das Gewimmer der Seelenquietsche, die nach Installierung der neuen kleinen Kirchenorgel für die Schule ausrangiert worden war, klang aber besser als zuvor sein Gekratze auf der Geige, bei dem sich infolge seiner steigenden Erregung immer einige Roßhaare vom Geigenbogen lösten.
Der Liederschatz entstammte noch dem Liederbuch vom Kaiserreich.
Freut euch des Lebens, Großmutter wird mit der Sense rasiert, Alles vergebens, Sie war nicht eingeschmiert.
Laß doch der Jugend ihren Lauf, Hübsche Mädchen wachsen immer wieder auf
Tanz‘ mit der Dorl, walz mit der Dorl bis nach Schönau
Es steht eine Mühle im Schwarzwäldertal, Die klappert so leis‘ vor sich hin. Und wo ich geh und steh, im Wald und auf der Höh‘, ja da kommt mir die Mühle, die Mühle in‘ Sinn, die Mühle vom Schwarzwäldertal.
Lehrer Eckart, bei den Dörflern beliebt, war ein Mann von Schrot und Korn. Turnunterricht bestand aus militärisch-gymnastischen Ertüchtigungsübungen zwischen Liegestütz und Streckung. Wir pappten uns die Handteller mit Honig voll, um uns besser an den Kerbestangen hochzuziehen, wozu er uns trimmte. Daneben gab es Fußball, Fußball, Fußball. Der sonstige Unterricht setzte nach den beiden Gesangsstunden ein: Stillarbeiten – Aufsatz schreiben, Inhaltsangabe verfassen, „Päckchen“ rechnen bis zum Abwinken – wurden verteilt und jeweils eine Klassengruppe zum Pult bestellt. „Wann war die die Kaiserkrönung Karls des Großen?… wenn ein Pfund Brot 60 Pfennig kostet, wieviel kosten dann 800 Gramm…100 Gramm Zervelatwurst kosten 1,35 DM. Was muss ich bei 350 Gramm bezahlen? …welche Währungen kennt ihr eigentlich?… was ist ein Sparbuch… wann werden Roggen, Weizen, Gerste, Kartoffeln, Rüben gesät und geerntet?“ usw., alles bester „Gesamtunterricht“. Manchmal wurden wir alle zum Kopfrechenwettbewerb einbezogen und er verriet uns manche Tricks dabei. „Was ist 16 * 18? Im Kopf rechnen“. Rechengang: 16 + 8, Ergebnis mal 10 + 6 * 8, zusammen also 288. Deutschnational war sein Geschichtsunterricht. Die Saarländer hatten sich durch Frankreich nicht bestechen lassen, sondern für die „Heimkehr ins Reich“ gestimmt. Den Engländern hatte man zur gleichen Zeit die Insel Sansibar vor Südostafrika angeboten, nur um das zuvor tagelang bombardierte Helgoland zurück zu tauschen, das die Engländer doch nicht kaputtgekriegt hatten. Und in solche wiederholt vorgetragene Schilderungen, zu denen auch die ruhmreiche Schlacht 1915 von Tannenberg gehörte, paßte auch das Pathos von Fichtes „Reden an die deutsche Nation“, die Befreiungskriege gegen Napoleon und die Anekdoten, die von Friedrich dem Großen und Philipp d. Großmütigen (Kurfürst zur Zeit Luthers in Nordhessen) überliefert waren. Freiheit – das war das Schlüsselwort von Lehrer Eckart. Es gab nichts Anschaulicheres als der weite Bogen, mit dem Henning Pogwisch, der Amtmann von Tondern, dem einfachen Fischer Pidder Lüng in den dampfenden Kohl spuckt.
„Einen einzigen Sprung hat Pidder getan, er schleppt an den Napf den Amtmann heran und taucht ihm den Kopf ein, läßt ihn nicht frei
bis der Ritter erstickt ist im glühheißen Brei. Die Fäuste dann lassend vom furchtbaren Gittern, brüllt er, die Türe und Wände zittern, das stolzeste Wort: Lewwer duad ös Slav!“15
Vor dieser illustren Ballade Detlev von Liliencrons verblaßten alle anderen zwischen Goethes „Des Sängers Fluch“ und Schillers „Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich Damon, den Dolch im Gewande…“ Schillers Monumentalopus „Die Glocke“ hätte Eckart zwar gerne in den Köpfen der Schüler gewußt, aber dafür reichte in der Regel nicht die Gedächtniskraft, zumal die Aussagestringenz des Epos für das Leben inzwischen etwas nachgelassen hatte, vor allem für einen Bauernjungen.
Jeden Samstag waren wir, auch bei schlechtem Wetter, zur Exkursion unterwegs. Wurde irgendwo Holz eingeschlagen, blieb Eckard bestimmt vor einem gefällten Stamm stehen, um zu fragen, wie Fläche und Volumen berechnet würden. Das Ergebnis, von Eckart in Stentorstimme vorgetragen, habe ich heute noch im Ohr: „Halbmesser mal Halbmesser mal pi mal Höhe“… Weitere Pflanzen, wie Wiesenschaumkraut, Sumpfdotterblume, Spitzwegerich, Schlehe, Stinkmorchel, die Bezeichnung der unterschiedlichen Bäume und die Maserung des Holzes – wir wurden in natura mit der Nase darauf gestoßen. Immer wieder erwähnte Eckart im Unterricht Gerhand Hauptmanns „Der Narr in Christo, Emanuel Quint“. Erst als
(Wulf beim Ehemaligentreffen 2011; Foto: Manuel)
über Siebzigjähriger stieß ich auf diesen Roman, der mich aufgrund diverser schlimmer Erfahrungen stark beschäftigte.
Aber wir spielten Eckart auch manchen Streich. Seinen Haselnußstecken, den er mit Getöse auf das Pult aufzuschlagen pflegte, um in der Klasse Ruhe einkehren zu lassen, rieben wir mit Zwiebel ein, so dass er in Stücke zersprang. Kreidereste, die er dem „Unterrichtsschläfer“ in den Nacken warf, „salbten“ wir mit Sirup, so dass sie am Finger kleben blieben. Guckte er weg, so schossen wir mit Gummis Papierkügelchen durch die Gegend oder streuten den Mädchen aus Hagebutten gewonnenes Juckpulver in den Hals, gerne banden wir sie auch mit ihren Zöpfen zusammen. Manuel rieb im Diktatheft die verlangte Leerstelle nach „Rechtschreibung“ und „Schrift“, wo der Lehrer seine Benotung eintrug, mit Stearin ein. Da auch Lehrer Eckart noch mit offenem Federhalter schrieb, setzte er zwei rote Kleckse ins Heft. Manuel bekam ein paar gescheuert, was aber seine herzliche Zuneigung zu Eckart nicht minderte. Eckart polierte später seine Rechenfähigkeit speziell für den Schreinerberuf auf, den Manuel erlernte, der übrigens hierbei nicht stehen blieb, sondern Abitur nachholte und studierte, um schließlich als Lehrer der Sekundarstufe 1 zu arbeiten. –
Neben mir saß Wolfram, mit dem ich eigentlich nur Unsinn trieb. Wir boxten uns in unbeobachteten Momenten, ärgerten die Mädchen, machten Faxen. Wolfram gehörte zu einer großen Familie. Die alleinstehende kriegsbedingt verwitwete Mutter war mit ihren sieben Kindern von Rügen vor den einrückenden Russen geflohen und in Imshausen aufgenommen worden. Ich hatte bei meinem ersten Imshausen-Aufenthalt 1950 noch mit Wolfram, der zu meiner Gruppe gehörte, gespielt. Dann suchte Frau Andrich sich eine eigene Wohnung im Dorf und zog mit ihren Kindern aus dem Kinderhausschloss. Wolfram lebt inzwischen in Australien als Ingenieur.
Inzwischen hatte sich bis 1952 die Kinderanzahl im Schloss vergrößert. Die „Zwerge“, Jungen im Alter zwischen 6 und 10, wohnten für sich im Holzhaus auf der einen Seite, die „Thingjungen“ im Alter zwischen 10 und 13 Jahren in einem eigens für sie 1951 errichteten Haus auf der anderen Seite des Paradiesgartens hinter dem Schloß. In diesem Hause war gleichzeitig die Schreinerei untergebracht.
Der Tagesraum der Thingjungen enthielt nicht nur Tisch und Bank sowie kleine Spinde für unsere Utensilien, sondern auch einen großen Schrank mit diversen Schreinerwerkzeugen und eine Hobelbank. Hans Georg, ausgebildeter Schreiner, wies uns in die Handhabung der Werkzeuge ein und vermittelte uns weitere zweckmäßige handwerkliche Kenntnisse. Wir wurden angeleitet, uns Skier aus Eschenholz zu hobeln. Diese wurden danach über heißem Wasserdampf in der Waschküche zurechtgebogen und zur besseren Gleitfähigkeit mit flüssigem Kerzenwachs mit Hilfe des Bügeleisens bestrichen. Eine primitive Bindung aus Lederriemen und elastischen Gummischläuchen noch eingenagelt und ab ging‘s mit zwei großen Haselnußstecken in den Händen. –
Ich hatte zu der Zeit gerade „Die Höhlenkinder im heimlichen Grund“ gelesen16 und ahmte die dort lebenden verwaisten Kinder Eva und Peter nach: Ich bastelte ihre Steinmesser und -äxte, die Schleudern, Flitzebögen, Speere, Wurfkeulen und Bumerangs. Ich baute Schmelzöfen aus Lehm, um darin „Kupfer“ (Stanniolpapier) und Eisen (rostigen Schrott) zu verhütten und um im Feuer Pfeilspitzen zu härten. Sparrennägel wurden „warm“, dh. rotglühend gemacht, indem man sie in den Kohleofen steckte, und dann zu Pfeilspitzen geschmiedet. Diese wurden dann in Haselnußstecken gesteckt und mit einem abgesägten Stück einer Fahrradluftpumpe darin stabilisiert. Leider hatte ich keine weichgekochten Tiersehnen zur Hand, mit denen ich den Stecken umwickeln konnte. Im trockenen Zustand wurden die Sehnen eisenhart und hatten sich zudem noch zusammengezogen.
Ich suchte im Wald nach geeigneten Wohn-Höhlen, wozu sich die diversen, uns streng verbotenen stillgelegten Schwerspat-Schächte anboten. Ich rauchte wie die Indianer im „Lederstrumpf“ das Kalumet, den sog. Teufelszwirn, den mir mein späterer Biolehrer im Gymnasium als „Waldrebe“ vorstellte. Er bestand aus luftdurchlässigen verholzten Röhrchen, so dass wir den Rauch durchsaugen konnten und uns nicht
(vor dem „Thinghaus“,1954, ich war damals immer der längste!)
selten Brandblasen an der Zunge und heftigen Durchfall einhandelten. Alternativ konnte man sich die Pfeife aus einer Roßkastanie mit Saugrohr aus Holunder schnitzen und sie mit Eichenlaub oder getrockneten Rosenblättern füllen. Es „schmeckte“ beides gräßlich. Abends beroch uns Barbara, um uns amüsiert anzuweisen, die Zähne zu putzen und den Mund auszuspülen. Sie verstand wohl, dass „Jungs sowas machen“, aber „Tante Vera“, die uns nach der Abendfeier den Gute-Nacht-Kuss verabreichte, war da wohl etwas empfindlicher. Bruder Hans sah darüber geflissentlich hinweg. Er reagierte eher, wenn wir uns allzu pubertär gaben und in zum Trocknen aufgehängter Damenunterwäsche nach „Gold“ suchten. Diethelm, den Bruder von Wolfram, und mich beorderte er zu sich, hielt uns eine erläuternde Standpauke und scheuerte uns jeweils eine. Dann mußten wir im Waschzuber – Waschmaschine gab es noch nicht – am Rubbelbrett zwei Stunden lang Strümpfe waschen. Manuel rutschten einmal 20 Teller auf den Steinfußboden. Er musste daraufhin beim Bauern arbeiten und mit seinem Verdienst den Schaden ersetzen.
„Erlaubt“, d.h. man sah auch darüber hinweg, waren unsere Obstklauereien an Kirsch- und Zwetschgenbäumen an den Wegrändern, deren Ernte man jedes Jahr neu versteigerte. Von den grünen Äpfeln und den Holzbirnen bekamen wir selbstverständlich Bauchweh. Bei den wohlschmeckenden Kirschen und Zwetschgen saß meistens hinter dem Busch der Besitzer auf Lauer, um uns nach Möglichkeit nach Genuß weidlich mit dem Haselnußstecken zu vertrimmen, eben in der gleichen Art, wie er das früher als Junge auch abbekommen hatte. „Richtige Jungs“ in Imshausen mußten einfach Obst klauen und dafür ihre „Abreibung“ bekommen.
Besondere Festzeiten gab es zum Ausklang der Sommerferien: Kinderfest und Märchenspiele, gerade auch für die eingeladenen Dorfkinder. Zum Weihnachtsfest wurde im Raum der Abendfeier zwischen zwei Tannenbäumen ein riesiges grünes Panorama mit Hirten, Engeln, Krippenidyll, den Weisen aus dem Morgenland, großen Kamelkarawanen und Soldatengruppen (des Herodes?) aufgebaut. Und dann wurden Märchen-Laienspiele aufgeführt. Wir waren als Kinder stets aktiv einbezogen. Als Feirefiz, dem farbigen Halbbruder von Parzifal, dessen Vater hatte eben neben seiner Ritterdame auch was mit einer betörend schönen schwarzen Sarazenin gehabt, schwang ich das Holzschwert; in „Abu Hassan“ schleppte ich den Eimer weg, den dieser Kaufmann ob des Verlusts seiner Karawanen vollgeheult hatte.
Während meines Aufenthalts wurde auch „Peterchens Mondfahrt“ zum Martinstag inszeniert, wobei Peter mit Schieber im Schloßflur zum ersten Stock, also zum Mond, durch eine Pappröhre „geschossen“ wurde. Wir waren alle als Kobolde, Engel, Sonnenstrahlen verkleidet, Vera trat als Königin der Nacht auf, Hans Georg fror erbärmlich als „Blubberquax“ in der Zinkbadewanne. Anschließend gab es Martinsgans mit Rotkraut und Maronen. Wir konnten essen, bis wir umfielen und durften dazu sogar – Wein trinken.
Ein anderer Höhepunkt war das Osterfest. Wir wurden um Mitternacht geweckt und durften nach dem gemeinsamen Feiern der Mitternachtsmesse und dem Rundgang mit brennenden Kerzen und weißen Gewändern durch den Park nunmehr aufbleiben. Um 6 Uhr wanderten wir gemeinsam zum auf der Anhöhe liegenden Dorffriedhof, wo wir vierstimmig alle bekannten Osterchoräle sangen, dann liefen wir zum Gedenkkreuz des Adam von Trott auf der gegenüberliegenden Anhöhe, wo sich das Gleiche wiederholte. Zur Sommersonnenwende wurde auf hochgelegenem Hügel ein riesiges Feuer entzündet, in das wir Strohpuppen warfen, denen wir zuvor, auf Zetteln geschrieben, unsere schlechten Eigenschaften angeheftet hatten. War der Holzhaufen niedergebrannt, sprang man, sich an Händen fassend, über die Glut, was auch als besondere Mutprobe angesehen wurde.
Immer anspruchsvoller wurde das gemeinsame Singen. Wir probten Werke aus der frankoflämischen Schule des 15. und 16. Jahrhunderts, die „Gesellige Zeit“, eine Sammlung von bekannten Madrigalen aus der Renaissance, war mir als Zehnjähriger bereits geläufig. Unvergeßlich auch die zwar mühsame, aber erfolgreiche Einstudierung von Leonhard Lechners umfangreicher „Johannespassion“ à capella, die wir anschließend in vielen Dorfkirchen vortrugen, das vierstimmige Wochenlied für den Sonntag in der Kirche machte mich mit der traditionellen Choralliteratur bekannt, die mich später vor allem bei meiner jahrzehntelangen nebenamtlichen Organistentätigkeit nachhaltig bestimmte. Alles Einflüsse, deren Wert ich erst viel später ungemein schätzen lernte.
Zur Geschichte des Imshäuser Kinderhauses
Die Stuttgarter Wochenzeitung Christ und Welt“ brachte in ihrer Sondernummer zum Leipziger Kirchentag (Nr. 27 vom 8. Juli 1954) einen Beitrag über die Imshäuser als einen „Ort der Zuflucht und zum Anderswerden“, der szt. einigen Rumor (innerhalb der Kirche) verursacht hatte.
Es ist ein bemerkenswerter Charakterzug dieser betriebsamen Welt von heute, in der die Großkopfeten der Managerkrankheit erliegen und die kleinen Leute von anderen Teufeln der Nichtigkeit geritten werden, dass es an vielen Orten ein neues und echtes Bemühen um Einkehr und Besinnung, ja darüber hinaus um Anbetung und Meditation gibt, das die engen Grenzen institutioneller Kirchlichkeit sprengt und mancherorten schon fast den Charakter dynamischer Bewegtheit angenommen hat. Es gibt in den angelsächsischen Ländern eine sehr breite Retreat-Bewegung, die von den verschiedensten Anstößen herkommt, und in Frankreich und der welschen Schweiz bekommt das entsprechende Wort Retraite einen immer vernehmlicheren Klang. Die Insel Iona im fernen Schottland, das Chateau Taizé nahe dem berühmten Cluny in Burgund, Grandchamp im schweizerischen Kanton Neuenburg sind zu Strahlungszentren solchen Bemühens geworden, das bis ins ferne Indien reicht, wo es heute in Anknüpfung an altindische Einsiedeleien evangelische und katholische „Ashrams“ gibt. In Deutschland ist man in dieser Hinsicht noch am weitesten zurück. Hier pflegt sich das kirchliche Leben noch in ziemlich ausgefahrenen Geleisen zu bewegen. Und was speziell die protestantische Seite angeht, so scheint man mehr auf eine anspruchsvolle und entsprechend abstrakte Theologie als auf eine Verleiblichung des Evangeliums bedacht. So konnte der beinahe schon kuriose Fall eintreten, dass das wohl bedeutendste Einkehrzentrum, das es hierzulande gibt, die sogenannte Untermühle im alten Schloss der Herren von Trott zu Solz im hessischen Imshausen, bis heute ein wahres Aschenbrödeldasein führt und trotz einer langjährigen und guten Arbeit noch kaum bekanntgeworden ist. – Die „Solztrotten“ zu Imshausen sind merkwürdige Leute. In einer Zeit, in der die Edelleute auszusterben scheinen, bringen sie, die jahrhundertelang ein Geschlecht des mittleren Adels ohne besonderen Glanz waren, eine Reihe bemerkenswerter Persönlichkeiten hervor. Adam von Trott zu Solz war einer der geistigen Führer des 20. Juli 1944 und wurde einige Monate danach hingerichtet. Sein Vater, August von Trott, war einer der letzten Kultusminister des Königreichs Preußen, ein Trott der Generation zuvor kurfürstlich hessischer Minister des Auswärtigen. Der Großvater von Mutters Seite war General von Schweinitz, der bedeutende deutsche Botschafter in Wien und St. Petersburg. Andere mütterliche Vorfahren, die Jays, deren Ahnherr ein Freund George Washingtons war, haben in der jungen Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika eine Rolle gespielt. – Vera von Trott, die Mutter der Untermühle17, ist eine Schwester des hingerichteten Adam, zu dessen Gedenken auf den Höhen über Imshausen ein mächtiges Kreuz errichtet worden ist. Während er als werdender Diplomat in den Hauptstädten Europas weilte, tat sie, die im Berliner Burckhardhaus als Gemeindehelferin ausgebildet worden war, in den Dörfern des Solzbachtales und seiner Nachbartäler bescheidene kirchliche Jugend- und Kinderarbeit, deren erstes Zentrum kurioserweise die Küche des väterlichen Gutshauses war. So anspruchslos und schlicht diese Arbeit war, so führte doch auch sie auf eine nicht minder bedeutende Ahnenschaft geistlicher Art zurück: Die vorige Generation der Solzer Trotten hatte nicht nur mit dem als Solzer Pfarrerssohn geborenen August Vilmar, sondern auch mit Wilhelm Löhe in Neuendettelsau und mit den Blumhardts in Möttlingen und Bad Boll Verbindung. Die letztere Verbindung besteht sogar bis heute fort: der vorige „Lehrmeister“ auf der Untermühle war ein Enkel der letzten Blumhardt-Tochter in Bad Boll, und als in diesem Jahr wie alljährlich zu Epiphanias das Oberuferer Dreikönigsspiel aufgeführt wurde, wirkten nicht weniger als drei Urenkel des alten Blumhardt dabei mit. Als der ehemalige Kultusminister 1938, weit über achtzig Jahre alt, starb, war seine Tochter inzwischen in die halbwegs zwischen Imshausen und Solz gelegene Untermühle übergesiedelt in eine ebenso romantische wie verwahrloste Behausung, in der mit frischen Kräften eine ganz neue Arbeit begann. Die sangesfreudigen Untermüller veranstalteten in ihrer Mühle, nachdem sie sie wieder bewohnbar gemacht hatten, Jugend- und Kinderfreizeiten, die wachsenden Zuspruch, aber auch steigenden Argwohn des Hitlerstaates fanden, der die Untermühle schließlich nach dem 20. Juli der Aufgabe der Jugendbetreuung unwürdig erklärte. Wie durch ein Wunder überstand die Untermühle aber den Zusammenbruch, und nun begann abermals ein neues Stadium ihrer Arbeit. Aus einem Zufluchtsort für Kinder in den turbulenten Nachkriegsjahren entwickelte sich ein regelrechtes Kinderheim mit durchschnittlich etwa sechzig Kindern aller Altersstufen, dem allerdings schon wegen seiner Lage in einem Zonengrenzbezirk ganz besondere Aufgaben zufielen und das auch in mancher anderen Hinsicht ein Kinderhaus ganz eigener Art und Prägung wurde. Von jeher war in der Untermühle viel gesungen worden. Begabte Kirchenmusiker wie Gerhard Schwarz waren schon von vergangenen Singefreizeiten her dem Hause eng verbunden. Aus Begegnungen mit den Alpirsbachern, die die Gregorianik neu entdeckt hatten, erwuchs ein immer intensiveres liturgisches Leben, durch das dieses Haus der Kinder mit den Jahren fast das Gepräge eines evangelischen Ordenshauses erhalten hat.
Nach zehn Jahren aus seiner Mühle verdrängt, musste das Kinderheim 1948 eine neue Behausung suchen, die es nunmehr infolge einiger überraschender Fügungen im schloßartigen Gutshaus der Trotten zu Imshausen fand. Nun wurde es vollends zu einem geistlichen Zentrum besonderer Art. Es hat nie auch nur einen Augenblick seinen Charakter als ein Ort der Zuflucht für Kinder ohne Heimat und Elternhaus preisgegeben. Es ist sogar immer mehr zur Zufluchtsstätte geworden: kirchliche wie kommunale Stellen pflegen gerade ihre schwierigsten Fälle, für die sie sonst gar keinen Rat wissen, nach Imshausen zu schicken. – Aber inzwischen sind der Untermühle – wie sie immer noch genannt wird, obwohl mittlerweile in einem Schlosse angesessen – ganz andere und noch bedeutendere Aufgaben zugewachsen. Aus den Hunderten und Aberhunderten, ja vielleicht Tausenden von Kindern, die im Laufe der Jahre durch die Untermühle gingen, sind junge Frauen und Männer geworden, die dem Hause weiter mit ungewöhnlicher Treue anhängen. Als das Imshäuser Schloss bald nach der Übersiedlung zu eng wurde, taten sich die ehemaligen Untermüller zu einer Baumannschaft zusammen, die in zwei aufeinanderfolgenden Sommern unter Anleitung eines Fachkundigen zwei Fachwerkhäuser errichteten, in denen jetzt ein Teil der Kinder untergebracht ist. – Aus dieser Gruppe ebenso besinnlicher wie tatenlustiger junger Männer ist in den letzten drei Jahren die sogenannte Kumpanei der Untermühle hervorgegangen, die durchaus nicht nur aus ehemaligen Untermüllern besteht, sondern auch auf andere junge Menschen eine wachsende Anziehungskraft ausübt. Studenten verbringen hier ihre Semesterferien, künftige Heimleiter ihre Praktikantenzeit. Einem Junglehrer, dem das Elternhaus vieles schuldig geblieben ist und der nun seinen künftigen Zöglingen nicht ebensoviel schuldig bleiben möchte, wurde auf einem Amt von der Untermühle als einem Ort erzählt, an dem man „anders“ würde. Er ist hingegangen. – Alljährlich pflegt die Kumpanei zu Weihnachten die drei überlieferten Oberuferer Spiele aufzuführen, in der Adventszeit das Paradeisspiel, in den zwölf heiligen Nächten nach Weihnachten das Krippenspiel und zu Epiphanias das Spiel von den heiligen drei Königen. Die Jungen und Mädchen sind beim Einstudieren der drei Spiele von einem ungewöhnlichen Ernst und Eifer beseelt. Sie müssen sich um die gar nicht einfachen Rollen dieser Bauernspiele sehr bemühen. Sie haben dazu, wie ehedem die Bauernburschen von Oberurff, einen eigenen Lehrmeister gewählt, der ein ganzes diakonisches Jahr in der Untermühle verbringt. Und es bedarf darüber hinaus der tatkäftigen Hilfe von „Bruder Hans“, der die liturgischen Dienste des Hauses versieht, sowie des ständigen Rates der Hausmutter Vera von Trott, ehe etwas Gutes und Brauchbares herauskommt. Aber es ist dann eine Freude zu sehen, wie die jungen Menschen in ihre Rollen hineinwachsen und an ihnen reifen. Und wenn sie ihrer dann Herr geworden sind, behalten sie ihren Gewinn nicht für sich, sondern ziehen mit den Spielen rings in die Dörfer des Richelsdorfer Gebirges und bis hin in das alte Landgrafenstädtchen Rotenburg an der Fulda, dessen Landrat ein Freund des Hauses ist. – So quillt dieses merkwürdige Haus von Leben geradezu über. Verhärmte und verstörte Kinder werden in seiner besonderen Atmosphäre in wenigen Wochen zu frischen und strahlenden Gottesgeschöpfen. Und auch so mancher müde und abgehetzte Erwachsene ist in diesem Kinderhaus durch eine „Retraite“ wieder zu sich selbst geführt und in einen neuen Menschen verwandelt worden. Zwar beschränken sich solche Einkehrzeiten, die das Haus nach dem Vorbild von Grandchamp und Iona veranstaltet, fürs erste noch auf gelegentliche Versuche, aber da in Imshausen seit vielen Jahren mit großer Regelmäßigkeit die Deutsche Messe nach der Ordnung der Michaelsbruderschaft gefeiert wird, fehlt es nicht an gediegener Zurüstungsarbeit. – Man sollte meinen, dass solch pulsierendes und in vielerlei Weise weit in das Land hinausstrahlendes Leben von einer Kirche, deren Gotteshäuser immer leerer werden, mit der größten Bereitwilligkeit akzeptiert und gefördert würde. Jedoch findet die Untermühle bis jetzt einen stärkeren Rückhalt als bei den kirchlichen Instanzen bei denen der weltlichen Öffentlichkeit. Hier weiß man immerhin die Qualität der Arbeit zu schätzen, die in diesem Hause getan wird. Aber auch in dieser Hinsicht bleibt noch unendlich viel zu wünschen übrig. Die Untermüller sind noch heute erschreckend arm. Wenn sie auch nicht mehr in jener unvorstellbaren Armut wie vor zehn Jahren leben, wo ein als Gast in ihre Mühle gekommener Franziskanermönch sagte, hier habe er erst wirkliche Armut kennen gelernt, so fehlt es doch immer wieder und wieder am Allernötigsten. Daß das Personal des Hauses ohne Bezahlung arbeitet, beruht auf dessen freiwilligem Verzicht und sollte wohl auch so bleiben. Aber dass jede Reparatur, etwa an den uralten und verfallenen Schornsteinen, zu einem Existenzproblem für das Haus wird, das sollte in einer Zeit, in der so viel Geld für die unsinnigsten Dinge ausgegeben wird, nicht sein. Als Vera von Trott vor einiger Zeit in einer ganz dringenden Notsituation den Bundespräsidenten Heuß um eine Beihilfe von 5000 Mark bat, wurden ihr 500 bewilligt. Vielleicht hätte er die umgekehrte Rechnung gemacht und 50000 Mark gegeben, wenn er das Haus und seine Arbeit selbst kennen gelernt hätte. Denn wo könnten solche Summen bessere und sinnvollere Verwendung finden als in einem Hause, das nicht allein den Kindern Zuflucht und Heimat, sondern allen Menschen Einkehr und Besinnung zu schenken bereit ist?“18
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Vera hatte speziell an uns „Thingjungen“ einen besonderen Narren gefressen. Wir mußten jeden Sonntag zu ihr in die „Stunde“ kommen, deren Sinn wir damals wohl alle nicht so recht verstanden und auch manchmal wegen Langweile schwänzten. Angetan mit dem bestickten blauen Hessenkittel, der so manches verschmutzte Hemd einfach überdeckte, ließ sie uns Konzentrations- und Sitzübungen machen, das „Ommm“ tibetischer Mönche summen, mit dem Pinsel kreisrunde „Oos“ malen oder ihre zahlreichen Bildbände über alte vorderorientalische Kulturen besehen. Dazu erzählte sie uns alttestamentliche Geschichten von Daniel in der Löwengrube oder den drei Männern im Feuerofen. Eines Tages hieß es, wir Thingjungen sollten alle Lateinunterricht bekommen. Barbara, die vielleicht Englisch, aber nicht Latein konnte, hatte zu diesem Zweck immer ein Kapitel im Lehrbuch voraus zu lernen und uns anschließend zu erläutern. Manche gaben bald auf, denn wozu sollten sie „agricola“ – der Bauer und „domina“ – die Herrin lernen? Der Sinn des ganzen Unternehmens blieb dunkel. Später ging mir auf, dass das Teil eines allmählichen Umwandlungsprozesses der Hausgemeinschaft war. Roger Schutz19 aus Taizé hielt sich längere Zeit bei uns auf. Dann hörte ich Wolfgang, den Landwirt, spotten, wenn es nach der Vera ginge, liefen wir bald alle mit Kutten herum. Wir sollten wohl später auf Latein die Wechselgesänge bei den Stundengebeten und Messen singen.
Wolfgang verschwand kurz darauf mit Margot, die als Diakonisse zu uns gekommen war, und man munkelte, die beiden hätten was miteinander und wollten heiraten. So etwas hatte ich schon beim ersten Aufenthalt 1950 mitbekommen. Hermann, der als desillusionierter Soldat in Imshausen hängengeblieben war und mir aus seiner Gefangenschaft erzählte, war eines Tages auch mit der Christa aus der Küche verschwunden. Die Musikstudentin Renate befaßte sich mit dem angehenden Architekten Michael aus offenkundigem persönlichem Interesse, aber der grenzte sich mit seinem Wunsch, in der Kommunität leben zu wollen, klar ab. Renate verschwand. Tragisch verlief der Wunsch von Richard, mit Ulla in näheren Kontakt zu kommen. Ich vermute, dass er zurückgewiesen wurde; er litt an Depressionen – und später hörte man unter der Hand Gerüchte von seinem Suicid. Offen geredet wurde über solche Vorgänge nicht. Hans Georg und Eva jedoch demonstrierten offen ihre Zuneigung und behaupteten auch ihre Lebensform gegenüber der Kommunität. Akzeptiert wurde das aber wohl nicht vollständig. Noch bei der Trauung, die Bruder Hans vornahm, soll von der „Wollust“ in abwertendem Sinne die Rede gewesen sein, obwohl der davon sprechende „Urchrist“ Paulus sie nie abgewertet, sondern als zweitrangig gegenüber dem von ihm erwarteten baldigen Weltende hervorgehoben und die Ehe als die angemessene Lebensform bezeichnet hatte.
Die Zugehörigkeit zur Lebensform der Kommunität zeigten die Erwachsenen nach „Profess“-Erklärung mit goldenen Handreifen, und bei den liturgischen Anlässen mit dem Tragen von weißen Kutten. Die „niederdeutsche Kumpaney“ der jungen Helfer war schließlich aufgelöst zugunsten dieser geistlichen Gemeinschaft.
2 In die Psalmodierung eingeschobene Zwischengesänge
3 Bei den in Imshausen üblichen Stundengebeten Laudes oder Morgenfeier (7 h), Tischgesang, später die von Gerhard Schwarz komponierten Seligpreisungen (Mt 5) (13h), die der Akustik wegen mittags im Treppenhaus gesungen wurden, Abendfeier (19.30 h) und Komplet (22.00 h) handelte es sich um bewußt gesetzte Eckdaten des Tages, an denen sich die gesamte Hausgemeinschaft orientierte.
4 Kirchenmusiker und Organist, lebte von 1902 bis 1995. Er verfaßte unter dem Eindruck der Singbewegung v Fritz Jöde für das weit verbreitete „Geselligen Chorbuch“ einen vierstimmigen Kalender, der gerade in Imshausen gern gesungen wurde. Lt. Wikipedia: „Schwarz studierte Kirchen- und Schulmusik, sowie Philosophie und Musikwissenschaft in Berlin. Am 1. November 1932 wurde er Mitglied der NSDAP und unter der Nr. 1.467.044 registriert. Er gründete die Berliner Kirchenmusikschule im Johannesstift in Spandau und war Organist an der neuen Kirche in Berlin. Nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten bearbeitete er das Fahnenlied der NSDAP und komponierte in der Folge verschiedene Gebrauchsmusikstücke im Sinne des Nationalsozialismus. 1934 wurde er Sachbearbeiter beim Reichsjugendpfarrer. Daneben war er Musikreferent beim Oberbann Süd der Hitlerjugend der „Kurmark“, wurde jedoch 1936 wegen des Verdachts der Homosexualität aus diesem Amt entfernt. 1940 war er Organist in Düsseldorf. 1941 wurde er zur Wehrmacht eingezogen, der er bis 1945 angehörte. Er diente als Gefreiter beim schlesischen Landes-Schützen-Bataillon 590 und war unter anderem in Schweidnitz zur Bewachung von Gefangenen eingesetzt. 1944 wurde er kurzfristig Oberorganist von Sankt Bernhard in Breslau.
1946 übersiedelte er zunächst nach Erfurt. 1947 wurde Schwarz Lehrer an den Musikhochschulen in Leipzig und Berlin. 1949 wechselte er nach Düsseldorf, wo er Direktor der Landeskirchenmusikschule und Organist der Johanneskirche wurde. 1961 wurde er Professor für Improvisation an der Hochschule für Musik Köln. 1968 erhielt er den Johann-Wenzel-Stamitz-Preis.
5 Treffpunkt und Kinderhausort vor dem Umzug nach Imshausen, bis ca.1949
6 Weithin bei Kirchenchören gebräuchliches geistliches Chorbuch mit zwei- bis sechsstimmigen Sätzen
7 Kommunität, die während des Krieges durch Roger Schütz in Burgund gegründet wurde.
8Nach Walter Tappolet 1954 über Eindrücke in Imshausen
9 Manuel Zimmermann hat von Siegrid erfahren: Barbara Kubale, ihre Mutter, hatte einen adeligen Geburtsnamen (von Perbandt). Bei Fides von Gontard legte sie ihr Wohlfahrtspflegerexamen in Kassel ab, kam durch deren Vermittlung als Kriegerwitwe mit ihrer Tochter Siegrid – diese war damals sechs Jahre alt – zu Vera v. Trott zunächst in die Untermühle, dann in das Schloss der Trotten. Siegrid habe behauptet, nie gewusst zu haben, wo ihre Mutter dort übernachtete, während sie selbst im „Schafstall“, der Gruppe für Säuglinge, Kleinkinder und Mädchen unterkam. Barbara widmete ihr wenig Zeit, was Siegrid noch als alte Frau belastet, die glaube, die Mutter habe es ihr verübelt, als Mädchen und nicht als Junge geboren zu sein. Der Name Siegrid, ungewöhnlich mit „ie“ geschrieben, sollte eigentlich Siegfried lauten. Barbara erledigte auch die gesamte Buchführung der Imshäuser, sorgte für die Eintreibung von Außenständen und die damit verbundene umfangreiche Korrespondenz. Neben diesem Fulltimejob betreute sie auch noch die 8 – 10 „Thingjungen“, eben unsere Altersgruppe von 10 bis 13 Jahren, keinesfalls leicht zu handhabende Kaliber bei den Störungen, die wir alle mitbrachten. Sie hatte also schon objektiv wenig Zeit für die Tochter, gleichgültig was diese dabei als Ablehnung empfand. Um Siegrid kümmerte sich schließlich Liese Hohmann, von der Siegrid zunächst regelmäßig von der Schule abgeholt und zur Untermühle gebracht wurde (ca. 1 km Weg). Barbara Kubale wurde im Rahmen der Heimreform in den Siebzigerjahren bekannt als Begründerin der „Marbach-GmbH“. Dieser nordhessischen Vereinigung gehörten alters- und geschlechtsgemischte Familiengruppen in Kinderhäusern an, die von einem Paar, meist ein/e SozialarbeiterIn oder ErzieherIn sowie ein anderweitiger Beruf beim Partner, geleitet wurden. Das Konzept dieser Kinderhäuser, oft in einem Fachwerkhaus in einem Dorf, war bewusst nach dem Imshäuser Kinderhausmodell ausgerichtet.
11 Günther Burckhardt wuchs als Einzelkind auf und wurde daher oft von seinen Eltern in den kinderreichen Haushalt der Eisenbergs in Kassel gegeben. Vor dem 2. Weltkrieg gehörte man gemeinsam in den Kreis der Untermühle, wo man mit jungen Leuten Singfreizeiten abhielt und Gedankenaustausch pflegte. Nach dem Krieg kam man wieder zusammen – inzwischen war 1949 das Kinderhaus Imshausen entstanden, wo man gemeinsam lebte, bis Günther Burckhardt, inzwischen hatte er seine medizinische Praxis eröffnet, heiratete. Die Frau, eine Psychotherapeutin, stand den Imshäusern wegen der fehlenden Toleranz gegenüber dem Sexuellen recht kritisch gegenüber, vermochte es aber nicht, ihren Mann auf Distanz zu Imshausen gehen zu lassen. Günther Burckhardt war später als Pensionär sehr aktiv bei den Grünen und engagierte sich für Umweltpolitik.
12 Ich habe deutsche Grammatik und eine bewußt instrumentale Verwendung der deutschen Sprache eigentlich erst mit dem Lateinunterricht auf dem Gymnasium erlernt.
13 Die aus Leichtmetall oder Holz bestehenden Verbindungsstücke von der Taste bis zum Pfeifenventil
14 Veras Vater war preußischer Kulturminister, die Mutter entstammte einer bekannten amerikanischen Familie . Die Geschwister Monika, Werner, Adam – im Widerstand während der Nazizeit ermordet – , Heinrich und die geistig behinderte Ello wuchsen sämtlich zuhause auf. Liese, eine robuste Bauerntochter aus Imshausen, gehörte szt. diesem Haushalt im Schloss an.
16 Die Höhlenkinder ist eine Jugendbuch-Trilogie des böhmischen Schriftstellers Alois Tlučhoř, die er unter dem Pseudonym Alois Theodor Sonnleitner zwischen 1918 bis 1920 schrieb. Die dreiteilige Erzählung beginnt nach dem Dreißigjährigen Krieg. Das dreijährige Waisenkind Eva lebt bei seiner Großmutter, der „Ahnl“, im Stodertal nördlich des Toten Gebirges. Nach einem Unwetter wird diese der Hexerei verdächtigt und flieht mit dem Mädchen auf den Schultern zu ihrem Bruder Hans, der sein Leben als Köhler im Wald, in einem Seitengraben des Eisacktals fristet. Erneut wird sie als Hexe angeklagt. Der Großonkel (im Buch „Ähnl“ genannt) kennt einen versteckten Platz, zu dem man nur durch eine gefährliche Klamm Zutritt hat und der deswegen von den Menschen gemieden wird, den „Heimlichen Grund“. Dorthin flieht sie allein für einige Monate. Als sie zum Bruder zurückkehrt, bringt sie den unterwegs aufgelesenen Waisenknaben Peter mit, der etwa zwei bis drei Jahre älter ist als Eva und sich mit dieser anfreundet. Die beiden müssen den Pflegeeltern bei der täglichen Arbeit helfen, in Haus und Stall, beim Hüten der Ziegen, beim Sammeln von Beeren, Pilzen und essbaren Wurzeln. Als sie zehn bzw. dreizehn Jahre alt sind, wird die „Ahnl“ ein drittes Mal als Hexe verdächtigt, und nun fliehen alle vier vor den Häschern der Meraner Gerichtsbarkeit in den „Heimlichen Grund“. Aus den geographischen, geologischen (eine Glimmerschieferhalde, Granitbrocken u. ä.) sowie astronomischen Andeutungen (im Winter geht die Sonne über dem Monte Cristallo auf) lässt sich schließen, dass Sonnleitner seinen „Heimlichen Grund“ in den Sarntaler Alpen gedacht hat. Der Ähnl wird beim nächtlichen Anstieg durch die Klamm von einer Steinlawine erschlagen, die Ahnl stirbt wenig später an Erschöpfung. Mutterseelenallein, ohne jegliches Werkzeug, von der Außenwelt völlig abgeschnitten, ganz auf sich selbst gestellt, sind die Kinder gezwungen, ihr Leben nach Art der Urmenschen zu fristen. Anhand der Beschreibung des Lebenslaufs der beiden Kinder lässt Sonnleitner die Entwicklungsgeschichte der Menschheit von der Steinzeit über die Bronzezeit bis zur Eisenzeit an dem jugendlichen Leser im Zeitraffertempo vorüberziehen. Peter und Eva kennen die im täglichen Leben der damaligen Zeit benutzten Geräte und Werkzeuge. Sie wissen, welche wildwachsenden Pflanzen, Beeren und Pilze essbar sind und welche nicht – jetzt müssen sie „lediglich“ versuchen, die zum Überleben notwendigen Geräte, Werkzeuge und Waffen aus den Stoffen, die die Natur ihnen bietet, herzustellen und Essbares in ihrem abgeschlossenen Tal, dem „Heimlichen Grund“, zu finden. (Wikipedia)
17 Vera von Trott hatte schon vor und während des Krieges Bekannte und Freunde um sich gesammelt, mit denen sie nach dem Krieg die Kinderhausarbeit zunächst in der sog. Untermühle – auf halber Höhe zwischen Solz und Imshausen gelegen – begann und ab 1948/49 im Schloss von Imshausen weiterführte.
18 Christoph Obermüller Quatember 1954 (S. 240-242)
19 Frère Roger Schutz (siehe kleines Foto, franz. Frère „Bruder“; * 1915 † 2005 ) war Gründer und lebenslanger Prior der ökumenischen Bruderschaft von Taizé (Communauté de Taizé). Frère Roger selbst schrieb: „Geprägt vom Lebenszeugnis meiner Großmutter fand ich, wie sie, meine Identität als Christ darin, in mir den Glauben meiner Ursprünge mit dem Geheimnis des katholischen Glaubens zu versöhnen, ohne mit irgendjemandem zu brechen.“ Er wurde 2005 von einer Geistesgestörten öffentlich ermordet.
Anmerkungen im Superwahljahr nach Kommunal- und EU-Wahl
Enttäuschung, Erstaunen, Freude oder Schulterzucken folgten auf die Bekanntgabe des Ergebnisses der Korbacher Bürgermeisterwahl. Mit dem Spruch „Mehrheit ist Mehrheit“ endete meist der Kommentar. Anders hingegen waren die Reaktionen auf die Ergebnisse der Wahl zum EU-Parlament. Sofort begannen die öffentlichen Überlegungen, wie aus den vielerlei unterschiedlich verorteten Abgeordneten eine Mehrheit zustande zu bringen sei, beispielsweise für die derzeitige Kommissionspräsidentin oder eine Mehrheit ohne „rechtsextreme“ Parteienvertreter.
Jedenfalls geht es für das jeweilige Wahlvolk stets um die Akzeptanz der aus der Wahlhandlung sich entwickelnden Ergebnisse.
In dem fast noch druckfrischen Buch „Demokratie in die Köpfe – Warum sich unsere Zukunft in den Schulen entscheidet“ (Hirzel Verlag 2023) gibt es hierzu auf Seite 53 einen bemerkenswerten Diskussionsbeitrag, auch für alle weiteren Wahlen: