Ebenfalls Kriegskinder?

Zeitzeugen, Jahrgang 1941

Aus den schönsten Zeiten eines Kriegskindes – Wulf Eggerts Bericht über eine besondere Idylle – posthum.

Der insbesondere von (west-)deutschen Wissenschaftlern – Psychologen, Soziologen und Historikern – geprägte Begriff Kriegskinder bezeichnet Menschen, die mit ihren im zweiten Weltkrieg überlebten traumatischen Erlebnisen – wie beispielsweise Bombardierungen oder Flucht – in ihrem weiteren Leben zurecht kommen müssen.

Angesichts der aktuellen, grausamen Nachrichten und Bilder, die uns aus der Ukraine und Nahost erreichen und bedrücken, möchte man jenen Kindern wünschen, auch ähnlich fröhliche und befreiende Hilfen in ihrer Jugend kennen zu lernen.

Somit gilt 1941 als ein Jahrgang der Kriegskinder, zu dem ja auch ich gehöre, denn diese hatten gerade in den Jahren nach Ende des zweiten Weltkriegs allgemein unter den herrschenden Wirrnissen gelitten. Wulf Eggert war bereits im Kinderhaus in Imshausen bei Bebra, als ich aus dem kaputten Elternhaus mit meinen Albträumen von Bombardierungen Anfang November 1950 dazu kam. Wir verstanden uns von Anfang an ausgezeichnet, waren fast gleich alt und bis zu seinem Tod 2020 enge Freunde. (Wegen der damaligen abscheulichen und grundgesetzwidrigen staatlichen Maßnahmen mit Lockdowns usw. durften wir nicht an seiner Beerdigung teilnehmen!)

Nachdem er schließlich als behördlicher Sozialarbeiter trotz vieler schwieriger Umwege Rentner geworden war, nutzte er unermüdlich den Computer dazu, von seiner Lebensgeschichte zu erzählen. Dankenswerterweise schenkte er mir eine der dabei entstandenen CDs, aus der ich im Folgenden den Ausschnitt aus unserer gemeinsamen Jugendzeit anbiete. Es würde ihn ganz bestimmt amüsieren zu sehen, wie auf diesem Blog seine nachdenklichen und humorvollen, aber auch hintergründigen Beschreibungen weltweit und für immer veröffentlicht werden. Dass er es dabei konsequent vermied, manches der Rechtschreibreform von 1996 zu befolgen, stört nur anfänglich.

Wulfs ausgeprägte Musikalität spiegelt sich in mehreren ausführlichen, interessanten Passagen über den Alltag und das damals vielfältige Singen im „Kinderhaus“. Auch die teils skurrilen Schilderungen der Dorfschule und des Lehrers sind gelungen. Viele Erlebnisse waren mir gar nicht mehr in Erinnerung!

Wulf Eggert: Imshausen

Die beiden Aufenthalte in Imshausen – Mai bis August 1950 und Januar 1952 bis Ostern 1953 – gehören für mich zu den schönsten Zeiten meines Lebens.

Hanna1 brachte mich 1950 dorthin. Völlig unbeeindruckt vom regnerischen Wetter spielte ich dort gleich glücklich mit zwei Jungen im lehmigen Matsch, während Hanna sich mit Vera von Trott [der Schwester des Widertsandskämpfers Adam von Trott zu Solz, der am 20. Juli 1944 am Attentat auf Adolf Hitler beteiligt war und als Außenminister der neuen Regierung vorgesehen, danach von den Nationalsozialisten hingerichtet wurde. Anm. M. Z.] unterhielt.

1952 wurde ich altersgemäß zu den „Thingjungen“ gegeben.

Anmerkung: 1950 sah das Herrenhaus etwa so aus. Das Foto stammt aus dem Buch „Ein Leben für die Freiheit“, Bärenreiter-Verlag Kassel, 1960; Ganz rechts steht der im Bericht später erwähnte „Bruder „Hans“, von rechts die siebte Person ist Vera von Trott zu Solz.

Nach und nach lernte ich das Anwesen kennen, den Trottenpark mit den zwei Schlössern im englischen Landhausstil, alten Bäumen, auf denen man wunderbar klettern konnte, ein Bach in der Mitte, den wir, an Ästen einer Hängebuche uns festhaltend, überquerten, der Hof, angrenzend an das Anwesen des Pächters Penke, der bald bepflastert wurde, Hühnerstall, Schweinestall, Paradiesgärtchen und die große Ulme, die mehrere hundert Jahre alt sein sollte. In der Dorfschule, die für die Grundschulkinder nachmittags stattfand, verstand ich anfangs den von den Kindern gesprochenen Dialekt, dem Thüringischen verwandt, überhaupt nicht, umgekehrt löste ich langanhaltendes Gelächter aus, wenn ich mit meinem „Frankfodderisch“ loslegte. Untergebracht waren wir für’s erste im „Kaminzimmer“, wo der Kamin aber noch verkleidet war. Man hatte hier sechs Stockbetten aufgestellt für die Jungen. Die Mädchen lebten im zweiten Obergeschoß des Schlosses, im „Schafstall“. Mit uns im Raum schlief Wolfgang, Student der Landwirtschaft, der uns mit Eva, einer angehenden Floristin, betreute.

Morgens begann um 7 h der Tag auch für uns Kinder mit dem Absingen der „Laudes“, dh. im Psalmierungston wurden vorgegebene Texte, unterbrochen von Antiphonen2 und Hymnen, gesungen. Während dieser halben Stunde war mir immer schon ganz schlecht vor Hunger. Zum Frühstück gab es dann Haferbrei oder Schrotsuppe, Zucker, Milch und Margarinebrote. Danach sollten wir die Hausaufgaben anfertigen, denn nachmittags um 14 h begann für Kinder im Grundschulalter die Schule. Das Mittagessen, das die gesamte Hausgemeinschaft – damals etwa 25 Personen – gemeinsam in der Empfangshalle unter einem riesigen Wildschweinkopf einnahm, leitete Bruder Hans mit einem Gebetsruf – „Bene dicte“ – zum Danken ein, in das die Hausgemeinde einstimmte. Vera von Trott erschien nun auch und setzte sich in die Mitte der Tafel. Abends nach dem Abendessen sah man sie wieder in der „Abendfeier“, deren Atmosphäre die nachfolgende Schilderung beschreibt.

„Das lebengestaltende Element der Liturgie3 hat … seine ganz bestimmte Form angenommen: in der Abendfeier. Groß und Klein freut sich den ganzen Tag auf diese abendliche Feierstunde, von der man etwas Bestimmtes erwartet, die aber auch immer Überraschungen bringt. Nach dem Nachtessen versammelt sich alles in dem großen Festraum des Hauses, der die vier Wände entlang Stühle und Bänke enthält; außerdem nur das kleine Positiv und den Altartisch, der immer mit Blumen geschmückt ist. Wenn alle da sind, beginnt man im Licht der Wandleuchter mit Singen.“

Die Abendfeier fand stets im „Wohnzimmer“ statt, wo bis zur Fertigstellung der „Krypta“ auch donnerstags und sonntags die lutherische Messe gefeiert wurde.

Der Hausvater [„Bruder Hans“] schlug, als ich kürzlich wieder dort war, den Satz von Gerhard Schwarz4 (einem besonderen Freund des Hauses) zu dem Storm-Text „An die Freunde“ mit dem Schluß der heimlichen Liebesbande „von Land zu Land“ vor. Das Kleinste der Kinder, ein blonder Lockenkopf, das überall hinter dem Hausvater hertrappelt, wenn er die Bücher holt und austeilt, und während des Singens zu seinen Füßen auf dem Boden sitzt, wünscht das „Klopfe, klopfe, Ringelchen“. Es schließen sich die Lieder der Jahreszeit und des Kirchenjahres an, das Septemberlied von Schwarz, das Michaelslied, und das „Heut singt die liebe Christenheit“ leiten über zum Abendgebet, zu dem eines der Kinder die Leuchter auf dem Altar anzündet, während die Wandleuchter gelöscht werden. Die Kinder sprechen nach der Abendlesung unaufgefordert, deutlich aber verhalten ihre Nachtgebetlein, ein größerer Junge einen Psalm, auf den alle mit dem „Ehre sei dem Vater . . .“ antworten. Es folgen gemeinsam gesprochen ein Abendgebet um einen ruhigen tiefen Schlaf und gute Träume oder das Vater Unser, worauf der Hausvater mit dem Kreuzeszeichen den Segen erteilt.- Als ich das erste Mal in der Untermühle5 war, am Vorabend von Christi Himmelfahrt, begann die Abendfeier damit, dass ich einiges auf dem Positiv [kleiner Orgel] spielte. Danach sangen wir alle Oster- und Himmelfahrtslieder aus dem „Gölz“6. Die größeren Kinder sangen überall den cantus firmus oder auch den Alt mit, während die kleineren auf dem Schoß der Hausmutter oder einer der Helferinnen lagen, andere auf dem Boden. Bald schliefen die Kleinsten ein. Aber ob sie sangen, zuhörten oder schliefen, alle waren sie gleicherweise glückselig und im Frieden geborgen. Die Helferinnen trugen dann die Schlafenden in ihre Betten… Ein anderes Mal wird in der Abendfeier eine Geschichte erzählt oder etwas vorgelesen. Es herrscht im Vertrauen auf das Walten des Heiligen Geistes und auf Gottes heilige Engel über diesem Hause eine große Freiheit neben der strengen Form der gottesdienstlichen Liturgie, die „Freiheit der Kinder Gottes“, nicht nur in diesen Abendfeiern, die ähnlich wie die ganz anderen Formen in Taizé7 ebenso wohltuend wirken durch die große Natürlichkeit, die allen geistlichen Krampf ausschaltet, sondern im Leben des ganzen Tages, in das die Liturgie einbezogen ist und ihre Kräfte ausstrahlt.8

Vera von Trott und Kirchenmusikdirektor Gerhard Schwarz bei einem ihrer Geburtstagsfeiern

Die Liturgie strahlte aber auch etwas Verführerisches aus. Vera ließ den Kartoffelkeller im Schloss Ende der 50er Jahre in eine Krypta mit bogenförmiger Decke umbauen und verlegte die Feier der Deutschen Messe, wie sie angeblich noch Luther gefeiert habe, hierhin. Aber unter dem Einfluss griechisch-orthodoxer Kirchlichkeit wurde dieser Gottesdienst noch feierlicher ritualisiert. So erhielten wir zum Besuch weiße Überhänge. Es wurden standardisierte Texte aus den Psalmen und dem Neuen Testament durch Gerhard Schwarz vertont, die Psalmodierung, an der die gesamte Hausgemeinschaft beteiligt war, geschah vierstimmig, während zwischen den einzelnen Abschnitten Antiphone unisono gesungen wurden.

Der Gesang hallte von der bogenförmigen Kryptadecke dumpf zurück, trug so den Klang und das jagte mir regelmäßig leichte Schauer der Ergriffenheit ein. Man hatte dabei, trotz oder auch wegen des Sauerstoffmangels, der verschiedentlich auch Ohnmachtsanfälle auslöste, das Empfinden, in einer abgehobenen Welt zu sein. Gerhard Schwarz, das muss man einfach sagen, fand mit seiner schlichten, aber doch feierlichen Sakralmusik – er komponierte auch die „Seligpreisungen“ der Bergpredigt – einen ausdrucksvoll-überzeugenden Weg, der das Erleben der Abgehobenenheit verstärkte.

Unser Jungen-Leben

Es war auch sonst ein reichhaltiges Leben im Kinderhaus. Wir sammelten gemeinsam Beeren, Wildkirschen, Pilze und Holz für den 1952 errichteten Saunaofen. Wir beteiligten uns bei den umliegenden Bauern an der Kartoffel- und Rübenernte, wobei wir dazuverdienen konnten. Einer von uns, Gerhard, hatte das Hausschwein, das mit Küchenabfällen gefüttert wurde, vollständig zu versorgen und erhielt für diesen Dienst nach der Schlachtung eine Bratwurst, die „von einem Ohr zum anderen“ reichte. Darauf war er sehr stolz und wurde von uns beneidet. Die Hühner fütterten wir alle gerne, 1952 war ein Jahr der Maikäferplage. Wir sammelten die Käfer tütenweise und gaben sie den Hühnern zu fressen, wonach dann auch die gelegten Eier schmeckten. Wir unternahmen Wanderungen im umliegenden Waldbergland, besuchten den Ahlheimer bei Rotenburg, die Boyneburg bei Nentershausen, das stillgelegte Kupferbergwerk bei Iba, wo man Versteinerungen fand, machten Lagerfeuer, sogar bei klirrenden Frost, und brieten darin Kartoffeln, kochten „süße“ Holzbirnen.

Manuel und ich, wir sonderten uns gerne ab, einmal im Januar stopfte uns Liese, die der Küche vorstand, einen Proviantkorb voll, damit wir uns einen Tag lang im Steinbruch am Feuer zureichend ernährten. Aber uns ging es ums gegenseitige Vorlesen: Die Geschichte von der Eroberung Konstantinopels durch die Türken, Mitte des 15. Jahrhunderts. –

Fester Bestandteil unseres Jungenlebens waren Geländespiele und Vorleseabende, bei denen „Sigismund Rüstig“, „Lederstrumpf“, „Gullivers Reisen“, „Griechische, römische und germanische Heldensagen“ und nicht zuletzt die Abenteuer des „Seeteufels“ Felix Luckner und die spannenden Märchen aus „1000 und 1 Nacht“ sich großer Beliebtheit erfreuten. Bruder Hans war belustigt, als ich mir vor lauter Begeisterung aus seiner Bibliothek die von Voss in Hexameter gebrachte deutsche Standard-Übersetzung der „Ilias“ ausbat, deren schwingend-poetische Sprache ich natürlich überhaupt nicht verstand. Hans-Georg, ein Schreinergeselle, der uns ab 1952 mit Barbara Kubale9 betreute, entwickelte zusätzlich ein außergewöhnliches Erzähltalent.

Beim ersten Aufenthalt hatte ich noch Mühe, mit den rauhen Jungenspielen klar zu kommen. Oft zog ich mich zurück oder wollte nicht aus dem Bett aufstehen. – Gerhard, der aufgrund seelischer Störungen noch einnäßte, wurde einmal in der Waldschonung an den „Marterpfahl“ gefesselt und mitgeteilt, dass nun die Wildschweine kommen und ihn anknabbern. Aber nach einer halben Stunde befreiten wir ihn wieder. Während des zweiten Aufenthalts bekam ich in der Gruppe anfangs häufig Wutanfälle und erhielt dann manchmal „Zimmerkeile“, bis ich meine Rolle gefunden hatte.

Ich war Spezialist für das Anfertigen von Waffen, wußte, wo die geeigneten geraden Haselnußstecken für Flitzebogen und zum Beschnitzen als Wanderstecken wuchsen, hatte bald einen Fänger10 aus gesuchtem „SS-Stahl“ mit Hirschhorngriff, baute Steinzeitschleudern, kleine Schiffe, schmiedete Sparrennägel um zu flachen Speerspitzen, wußte, wie man Beile scharf schliff und anschließend die Schleifreste von der Klinge abzog, ferner konnte ich Schalmeien aus Weiden und in der Tonhöhe veränderbare Flöten aus Holunder schnitzen.

Irgendwann bekam ich Konkurrenz in meinen Erfindungskünsten. Niels kam aus Berlin; er wußte alle Arten von Sauriern zwischen Tyrannosaurus rex und Triceratops, war beschlagen in Astronomie und bewies mir oft, dass meine Annahmen über die Welt völlig abwegig waren. Er hatte auch mal was von Relativitätstheorie gehört, aber das von ihm Ausgeführte verstand ich schon gar nicht mehr. Wie sollten denn, wenn man zwei Tage mit dem Raumschiff in Lichtgeschwindigkeit unterwegs war und wieder zurückkehrte, auf der Welt 200 Jahre vergangen sein? Niels blieb mir dafür den Beweis schuldig und ich verbreitete die Ansicht, dass er wohl manchmal eine Schraube locker hatte.

Sehr still war Siegfried. Irgendetwas sollte mit seiner Mutter nicht in Ordnung sein. Man kam nicht an ihn heran, meist lächelte er dünn, hob die Hände zur Gebetshaltung und ging einfach weiter, wenn man ihn ansprach.

Richard, der viel von zuhause erzählte, sehe ich aus meiner jetzigen Sicht als Mißbrauchsopfer seines Vaters an. Er war sehr lustig, lachte immer und war ein guter Kumpel.

Peters Vater war in Kriegsgefangenschaft, seine Mutter musste arbeiten. Sein älterer Bruder

Jochen hielt sich in der Kumpaney auf. Peter war der Intelligenteste von uns. Er konnte sehr rasch Kopfrechnen, setzte ein neues Fahrrad aus vielen alten Einzelteilen selbständig zusammen, konnte Noten lesen und schon recht sicher vom Blatt singen. Er bekam auch bald Klavierunterricht und sollte zum Gymnasium, wozu ihm Bruder Hans vorsorglich Lateinunterricht gab. Als Neffe von Bruder Hans genoss Peter in der Thingjungen-Gruppe eine Sonderstellung. Er war umgänglich, hielt sich aber bei keinem auf und schloss auch mit keinem engere Freundschaft. Er raufte oft mit Manuel um die Gruppenführung. Ich habe jetzt im Internet herausgefunden, dass er zunächst Toningenieur war, dann aber zum Sprachwissenschaftler umsattelte. Manuel war der Stärkste, groß, sehr eigenständig, ein hübscher Kerl. Von zuhause genoss er nicht viel Unterstützung, und Barbara wurde ihm allmählich zur Ersatzmutter. Ich bewunderte seine Kraft bei Prügeleien mit den Dorfjungen, von denen oft mehrere auf ihn losgingen und die er mit geschickter Drehwendung alle auf den Boden sinken ließ. Ich war erschreckt und amüsiert zugleich, wenn er in ungestümem, zu wenig kontrolliertem Eifer über das Ziel hinausschoss.

Mit dem Lateinunterricht, den meine Eltern für mich erbaten, war es zunächst nicht weit her. Schließlich erklärte sich Dr. Burckhardt, ein enger Bekannter von Bruder Hans11, dazu bereit – ein mühsames Geschäft, weil mir jede Grundkenntnis von deutscher Grammatik fehlte12.

Streiche waren an der Tagesordnung. Dazu ein Beispiel:

Eines Tages tauchte André, der Orgelbauer, auf. Er hatte seit einem Motorradunfall ein steifes Bein, und erhielt von uns den Spitznamen „Waldschrat“. Er war auch ein bißchen eigen. Er erkannte rasch meine Musikalität, mein Interesse an Orgeln und bat mich, ihm bei der Reparatur der Dorfkirchenorgel im zwei Kilometer weit entfernten Ort Solz zu helfen. Dort war ihm nämlich beim Spielen ein Mißgeschick passiert. Als er die leicht verstimmbaren Zungenregister nachstimmen wollte, stolperte er und stürzte in die Holztrakturen13. Bei der Reparatur und dem Einbau neuer Trakturleisten entwickelten sich aber sogenannte Heuler, dh. obwohl ich nur eine Taste drückte, erklangen zwei, manchmal sogar drei Pfeifen gleichzeitig, oder noch schlimmer: Man stellte den Motor für den Blasebalg an und sofort erklangen die Heuler. Wir mussten etwa vier Tage herumbasteln, bis die Trakturen wieder einwandfrei liefen und nicht mehr aneinander hängenblieben. Natürlich hatte ich den anderen Jungen davon erzählt. Eines Nachts wachte ich durch ein scharrendes Geräusch im Schlafraum auf. Mir gegenüber an der Wand schlief André, nein er schnarchte ganz erbärmlich. Dann bemerkte ich, wie sich unter sein Bett ein Schlauch schob – , es begann ein Pfeifengejammere und eine dumpfe Stimme sagte: „Ich bin der Heuler aus Solz! Warum hat du mich zurückgelassen?“ André schreckte hoch, das Flötengejammere verstummte, setzte aber sofort wieder ein, wenn André erneut Schnarchtöne von sich gab. Am Morgen wurde der Schlauch gefunden. Man hatte an seinem Ende einen Blockflötenkopf befestigt.

André war von eigensinniger Eigenwilligkeit. Ruth, die Organistin von Lichtenau, bei der ich später während des Diakonischen Jahres erstmals Orgelunterricht nahm, hatte mit ihm zusammen an der Kirchenmusikschule Schlüchtern studiert. Eines Tages habe es eine aufgeregte Konferenz unter den Dozenten wegen André gegeben. André war nämlich nachts in die Konzertorgel der Kirchenmusikschule eingestiegen und hatte ein Zungenregister kurzerhand von der 16-Fuß Bombarde zum 8-Fuß-Trompetenregister gestutzt, indem er einfach die Klangbecher um die Hälfte absägte. Man wollte ihn zunächst relegieren, aber dann entdeckte ein Dozent die melodische Schönheit der so zurechtgeschnittenen Trompete und André erhielt nun sogar Belobigungen. – Bei allem erfahrenen Pech in seinem Leben winkte schließlich auch André das Glück in der holden Gestalt einer jung verwitweten Lehrerin, achtjähriges Töchterchen inbegriffen. Er fackelte nicht lange, heiratete die Frau und hatte rasch eine Stelle als wohlbestallter Organist in Bad Lippspringe. Danach verlor ich zu ihm den Kontakt.

Die zentrale Persönlichkeit der Hauswirtschaft war Liese. Sie war schon als junges Mädchen aus dem Dorf in den Haushalt der von Trotts gekommen14, hatte sich hier mit Vera angefreundet und ihr treu zur Seite gestanden. Bescheiden, freundlich, aber in dem, was sie sagte, bestechend klar und realistisch, leitete sie energisch die Küche und die Wäscheversorgung, sorgte dafür, dass auch die Männer mit Abspülen am Sonntag ihren hauswirtschaftlichen Beitrag leisteten und scheuchte uns Jungen konsequent aus der Küche, wenn wir hier unsere Schmalz- und Marmeladenbrote auf der Herdplatte rösteten. Sie behielt auch den Garten mit reichhaltigem Gemüseangebot im Auge, dh. wir Jungen hatten auch dort mitzuhelfen.

Dorfschule

1952 wurde ich in der Dorfschule der Klasse 5 bis 8 zugeordnet. Der Unterricht, ausgeführt vom Lehrer Eckart mit Kaiser-Wilhelm-Knebelbart und Knobelbechern, begann morgens mit zwei Stunden Gesang. Er traktierte dazu das Harmonium, während wir in großem Kreis um ihn herum saßen. Das Gewimmer der Seelenquietsche, die nach Installierung der neuen kleinen Kirchenorgel für die Schule ausrangiert worden war, klang aber besser als zuvor sein Gekratze auf der Geige, bei dem sich infolge seiner steigenden Erregung immer einige Roßhaare vom Geigenbogen lösten.

Der Liederschatz entstammte noch dem Liederbuch vom Kaiserreich.

Freut euch des Lebens, Großmutter wird mit der Sense rasiert, Alles vergebens, Sie war nicht eingeschmiert.

Laß doch der Jugend ihren Lauf, Hübsche Mädchen wachsen immer wieder auf

Tanz‘ mit der Dorl, walz mit der Dorl bis nach Schönau

Es steht eine Mühle im Schwarzwäldertal, Die klappert so leis‘ vor sich hin. Und wo ich geh und steh, im Wald und auf der Höh‘, ja da kommt mir die Mühle, die Mühle in‘ Sinn, die Mühle vom Schwarzwäldertal.

Lehrer Eckart, bei den Dörflern beliebt, war ein Mann von Schrot und Korn. Turnunterricht bestand aus militärisch-gymnastischen Ertüchtigungsübungen zwischen Liegestütz und Streckung. Wir pappten uns die Handteller mit Honig voll, um uns besser an den Kerbestangen hochzuziehen, wozu er uns trimmte. Daneben gab es Fußball, Fußball, Fußball. Der sonstige Unterricht setzte nach den beiden Gesangsstunden ein: Stillarbeiten – Aufsatz schreiben, Inhaltsangabe verfassen, „Päckchen“ rechnen bis zum Abwinken – wurden verteilt und jeweils eine Klassengruppe zum Pult bestellt. „Wann war die die Kaiserkrönung Karls des Großen?… wenn ein Pfund Brot 60 Pfennig kostet, wieviel kosten dann 800 Gramm…100 Gramm Zervelatwurst kosten 1,35 DM. Was muss ich bei 350 Gramm bezahlen? …welche Währungen kennt ihr eigentlich?… was ist ein Sparbuch… wann werden Roggen, Weizen, Gerste, Kartoffeln, Rüben gesät und geerntet?“ usw., alles bester „Gesamtunterricht“. Manchmal wurden wir alle zum Kopfrechenwettbewerb einbezogen und er verriet uns manche Tricks dabei. „Was ist 16 * 18? Im Kopf rechnen“. Rechengang: 16 + 8, Ergebnis mal 10 + 6 * 8, zusammen also 288. Deutschnational war sein Geschichtsunterricht. Die Saarländer hatten sich durch Frankreich nicht bestechen lassen, sondern für die „Heimkehr ins Reich“ gestimmt. Den Engländern hatte man zur gleichen Zeit die Insel Sansibar vor Südostafrika angeboten, nur um das zuvor tagelang bombardierte Helgoland zurück zu tauschen, das die Engländer doch nicht kaputtgekriegt hatten. Und in solche wiederholt vorgetragene Schilderungen, zu denen auch die ruhmreiche Schlacht 1915 von Tannenberg gehörte, paßte auch das Pathos von Fichtes „Reden an die deutsche Nation“, die Befreiungskriege gegen Napoleon und die Anekdoten, die von Friedrich dem Großen und Philipp d. Großmütigen (Kurfürst zur Zeit Luthers in Nordhessen) überliefert waren. Freiheit – das war das Schlüsselwort von Lehrer Eckart. Es gab nichts Anschaulicheres als der weite Bogen, mit dem Henning Pogwisch, der Amtmann von Tondern, dem einfachen Fischer Pidder Lüng in den dampfenden Kohl spuckt.

„Einen einzigen Sprung hat Pidder getan, er schleppt an den Napf den Amtmann heran und taucht ihm den Kopf ein, läßt ihn nicht frei

bis der Ritter erstickt ist im glühheißen Brei. Die Fäuste dann lassend vom furchtbaren Gittern, brüllt er, die Türe und Wände zittern, das stolzeste Wort: Lewwer duad ös Slav!“15

Vor dieser illustren Ballade Detlev von Liliencrons verblaßten alle anderen zwischen Goethes „Des Sängers Fluch“ und Schillers „Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich Damon, den Dolch im Gewande…“ Schillers Monumentalopus „Die Glocke“ hätte Eckart zwar gerne in den Köpfen der Schüler gewußt, aber dafür reichte in der Regel nicht die Gedächtniskraft, zumal die Aussagestringenz des Epos für das Leben inzwischen etwas nachgelassen hatte, vor allem für einen Bauernjungen.

Jeden Samstag waren wir, auch bei schlechtem Wetter, zur Exkursion unterwegs. Wurde irgendwo Holz eingeschlagen, blieb Eckard bestimmt vor einem gefällten Stamm stehen, um zu fragen, wie Fläche und Volumen berechnet würden. Das Ergebnis, von Eckart in Stentorstimme vorgetragen, habe ich heute noch im Ohr: „Halbmesser mal Halbmesser mal pi mal Höhe“… Weitere Pflanzen, wie Wiesenschaumkraut, Sumpfdotterblume, Spitzwegerich, Schlehe, Stinkmorchel, die Bezeichnung der unterschiedlichen Bäume und die Maserung des Holzes – wir wurden in natura mit der Nase darauf gestoßen. Immer wieder erwähnte Eckart im Unterricht Gerhand Hauptmanns „Der Narr in Christo, Emanuel Quint“. Erst als

(Wulf beim Ehemaligentreffen 2011; Foto: Manuel)

über Siebzigjähriger stieß ich auf diesen Roman, der mich aufgrund diverser schlimmer Erfahrungen stark beschäftigte.

Aber wir spielten Eckart auch manchen Streich. Seinen Haselnußstecken, den er mit Getöse auf das Pult aufzuschlagen pflegte, um in der Klasse Ruhe einkehren zu lassen, rieben wir mit Zwiebel ein, so dass er in Stücke zersprang. Kreidereste, die er dem „Unterrichtsschläfer“ in den Nacken warf, „salbten“ wir mit Sirup, so dass sie am Finger kleben blieben. Guckte er weg, so schossen wir mit Gummis Papierkügelchen durch die Gegend oder streuten den Mädchen aus Hagebutten gewonnenes Juckpulver in den Hals, gerne banden wir sie auch mit ihren Zöpfen zusammen. Manuel rieb im Diktatheft die verlangte Leerstelle nach „Rechtschreibung“ und „Schrift“, wo der Lehrer seine Benotung eintrug, mit Stearin ein. Da auch Lehrer Eckart noch mit offenem Federhalter schrieb, setzte er zwei rote Kleckse ins Heft. Manuel bekam ein paar gescheuert, was aber seine herzliche Zuneigung zu Eckart nicht minderte. Eckart polierte später seine Rechenfähigkeit speziell für den Schreinerberuf auf, den Manuel erlernte, der übrigens hierbei nicht stehen blieb, sondern Abitur nachholte und studierte, um schließlich als Lehrer der Sekundarstufe 1 zu arbeiten. –

Neben mir saß Wolfram, mit dem ich eigentlich nur Unsinn trieb. Wir boxten uns in unbeobachteten Momenten, ärgerten die Mädchen, machten Faxen. Wolfram gehörte zu einer großen Familie. Die alleinstehende kriegsbedingt verwitwete Mutter war mit ihren sieben Kindern von Rügen vor den einrückenden Russen geflohen und in Imshausen aufgenommen worden. Ich hatte bei meinem ersten Imshausen-Aufenthalt 1950 noch mit Wolfram, der zu meiner Gruppe gehörte, gespielt. Dann suchte Frau Andrich sich eine eigene Wohnung im Dorf und zog mit ihren Kindern aus dem Kinderhausschloss. Wolfram lebt inzwischen in Australien als Ingenieur.

Inzwischen hatte sich bis 1952 die Kinderanzahl im Schloss vergrößert. Die „Zwerge“, Jungen im Alter zwischen 6 und 10, wohnten für sich im Holzhaus auf der einen Seite, die „Thingjungen“ im Alter zwischen 10 und 13 Jahren in einem eigens für sie 1951 errichteten Haus auf der anderen Seite des Paradiesgartens hinter dem Schloß. In diesem Hause war gleichzeitig die Schreinerei untergebracht.

Der Tagesraum der Thingjungen enthielt nicht nur Tisch und Bank sowie kleine Spinde für unsere Utensilien, sondern auch einen großen Schrank mit diversen Schreinerwerkzeugen und eine Hobelbank. Hans Georg, ausgebildeter Schreiner, wies uns in die Handhabung der Werkzeuge ein und vermittelte uns weitere zweckmäßige handwerkliche Kenntnisse. Wir wurden angeleitet, uns Skier aus Eschenholz zu hobeln. Diese wurden danach über heißem Wasserdampf in der Waschküche zurechtgebogen und zur besseren Gleitfähigkeit mit flüssigem Kerzenwachs mit Hilfe des Bügeleisens bestrichen. Eine primitive Bindung aus Lederriemen und elastischen Gummischläuchen noch eingenagelt und ab ging‘s mit zwei großen Haselnußstecken in den Händen. –

Ich hatte zu der Zeit gerade „Die Höhlenkinder im heimlichen Grund“ gelesen16 und ahmte die dort lebenden verwaisten Kinder Eva und Peter nach: Ich bastelte ihre Steinmesser und -äxte, die Schleudern, Flitzebögen, Speere, Wurfkeulen und Bumerangs. Ich baute Schmelzöfen aus Lehm, um darin „Kupfer“ (Stanniolpapier) und Eisen (rostigen Schrott) zu verhütten und um im Feuer Pfeilspitzen zu härten. Sparrennägel wurden „warm“, dh. rotglühend gemacht, indem man sie in den Kohleofen steckte, und dann zu Pfeilspitzen geschmiedet. Diese wurden dann in Haselnußstecken gesteckt und mit einem abgesägten Stück einer Fahrradluftpumpe darin stabilisiert. Leider hatte ich keine weichgekochten Tiersehnen zur Hand, mit denen ich den Stecken umwickeln konnte. Im trockenen Zustand wurden die Sehnen eisenhart und hatten sich zudem noch zusammengezogen.

Ich suchte im Wald nach geeigneten Wohn-Höhlen, wozu sich die diversen, uns streng verbotenen stillgelegten Schwerspat-Schächte anboten. Ich rauchte wie die Indianer im „Lederstrumpf“ das Kalumet, den sog. Teufelszwirn, den mir mein späterer Biolehrer im Gymnasium als „Waldrebe“ vorstellte. Er bestand aus luftdurchlässigen verholzten Röhrchen, so dass wir den Rauch durchsaugen konnten und uns nicht

(vor dem „Thinghaus“,1954, ich war damals immer der längste!)

selten Brandblasen an der Zunge und heftigen Durchfall einhandelten. Alternativ konnte man sich die Pfeife aus einer Roßkastanie mit Saugrohr aus Holunder schnitzen und sie mit Eichenlaub oder getrockneten Rosenblättern füllen. Es „schmeckte“ beides gräßlich. Abends beroch uns Barbara, um uns amüsiert anzuweisen, die Zähne zu putzen und den Mund auszuspülen. Sie verstand wohl, dass „Jungs sowas machen“, aber „Tante Vera“, die uns nach der Abendfeier den Gute-Nacht-Kuss verabreichte, war da wohl etwas empfindlicher. Bruder Hans sah darüber geflissentlich hinweg. Er reagierte eher, wenn wir uns allzu pubertär gaben und in zum Trocknen aufgehängter Damenunterwäsche nach „Gold“ suchten. Diethelm, den Bruder von Wolfram, und mich beorderte er zu sich, hielt uns eine erläuternde Standpauke und scheuerte uns jeweils eine. Dann mußten wir im Waschzuber – Waschmaschine gab es noch nicht – am Rubbelbrett zwei Stunden lang Strümpfe waschen. Manuel rutschten einmal 20 Teller auf den Steinfußboden. Er musste daraufhin beim Bauern arbeiten und mit seinem Verdienst den Schaden ersetzen.

„Erlaubt“, d.h. man sah auch darüber hinweg, waren unsere Obstklauereien an Kirsch- und Zwetschgenbäumen an den Wegrändern, deren Ernte man jedes Jahr neu versteigerte. Von den grünen Äpfeln und den Holzbirnen bekamen wir selbstverständlich Bauchweh. Bei den wohlschmeckenden Kirschen und Zwetschgen saß meistens hinter dem Busch der Besitzer auf Lauer, um uns nach Möglichkeit nach Genuß weidlich mit dem Haselnußstecken zu vertrimmen, eben in der gleichen Art, wie er das früher als Junge auch abbekommen hatte. „Richtige Jungs“ in Imshausen mußten einfach Obst klauen und dafür ihre „Abreibung“ bekommen.

Besondere Festzeiten gab es zum Ausklang der Sommerferien: Kinderfest und Märchenspiele, gerade auch für die eingeladenen Dorfkinder. Zum Weihnachtsfest wurde im Raum der Abendfeier zwischen zwei Tannenbäumen ein riesiges grünes Panorama mit Hirten, Engeln, Krippenidyll, den Weisen aus dem Morgenland, großen Kamelkarawanen und Soldatengruppen (des Herodes?) aufgebaut. Und dann wurden Märchen-Laienspiele aufgeführt. Wir waren als Kinder stets aktiv einbezogen. Als Feirefiz, dem farbigen Halbbruder von Parzifal, dessen Vater hatte eben neben seiner Ritterdame auch was mit einer betörend schönen schwarzen Sarazenin gehabt, schwang ich das Holzschwert; in „Abu Hassan“ schleppte ich den Eimer weg, den dieser Kaufmann ob des Verlusts seiner Karawanen vollgeheult hatte.

Während meines Aufenthalts wurde auch „Peterchens Mondfahrt“ zum Martinstag inszeniert, wobei Peter mit Schieber im Schloßflur zum ersten Stock, also zum Mond, durch eine Pappröhre „geschossen“ wurde. Wir waren alle als Kobolde, Engel, Sonnenstrahlen verkleidet, Vera trat als Königin der Nacht auf, Hans Georg fror erbärmlich als „Blubberquax“ in der Zinkbadewanne. Anschließend gab es Martinsgans mit Rotkraut und Maronen. Wir konnten essen, bis wir umfielen und durften dazu sogar – Wein trinken.

Ein anderer Höhepunkt war das Osterfest. Wir wurden um Mitternacht geweckt und durften nach dem gemeinsamen Feiern der Mitternachtsmesse und dem Rundgang mit brennenden Kerzen und weißen Gewändern durch den Park nunmehr aufbleiben. Um 6 Uhr wanderten wir gemeinsam zum auf der Anhöhe liegenden Dorffriedhof, wo wir vierstimmig alle bekannten Osterchoräle sangen, dann liefen wir zum Gedenkkreuz des Adam von Trott auf der gegenüberliegenden Anhöhe, wo sich das Gleiche wiederholte. Zur Sommersonnenwende wurde auf hochgelegenem Hügel ein riesiges Feuer entzündet, in das wir Strohpuppen warfen, denen wir zuvor, auf Zetteln geschrieben, unsere schlechten Eigenschaften angeheftet hatten. War der Holzhaufen niedergebrannt, sprang man, sich an Händen fassend, über die Glut, was auch als besondere Mutprobe angesehen wurde.

Immer anspruchsvoller wurde das gemeinsame Singen. Wir probten Werke aus der frankoflämischen Schule des 15. und 16. Jahrhunderts, die „Gesellige Zeit“, eine Sammlung von bekannten Madrigalen aus der Renaissance, war mir als Zehnjähriger bereits geläufig. Unvergeßlich auch die zwar mühsame, aber erfolgreiche Einstudierung von Leonhard Lechners umfangreicher „Johannespassion“ à capella, die wir anschließend in vielen Dorfkirchen vortrugen, das vierstimmige Wochenlied für den Sonntag in der Kirche machte mich mit der traditionellen Choralliteratur bekannt, die mich später vor allem bei meiner jahrzehntelangen nebenamtlichen Organistentätigkeit nachhaltig bestimmte. Alles Einflüsse, deren Wert ich erst viel später ungemein schätzen lernte.

Zur Geschichte des Imshäuser Kinderhauses

Die Stuttgarter Wochenzeitung Christ und Welt“ brachte in ihrer Sondernummer zum Leipziger Kirchentag (Nr. 27 vom 8. Juli 1954) einen Beitrag über die Imshäuser als einen „Ort der Zuflucht und zum Anderswerden“, der szt. einigen Rumor (innerhalb der Kirche) verursacht hatte.

Es ist ein bemerkenswerter Charakterzug dieser betriebsamen Welt von heute, in der die Großkopfeten der Managerkrankheit erliegen und die kleinen Leute von anderen Teufeln der Nichtigkeit geritten werden, dass es an vielen Orten ein neues und echtes Bemühen um Einkehr und Besinnung, ja darüber hinaus um Anbetung und Meditation gibt, das die engen Grenzen institutioneller Kirchlichkeit sprengt und mancherorten schon fast den Charakter dynamischer Bewegtheit angenommen hat. Es gibt in den angelsächsischen Ländern eine sehr breite Retreat-Bewegung, die von den verschiedensten Anstößen herkommt, und in Frankreich und der welschen Schweiz bekommt das entsprechende Wort Retraite einen immer vernehmlicheren Klang. Die Insel Iona im fernen Schottland, das Chateau Taizé nahe dem berühmten Cluny in Burgund, Grandchamp im schweizerischen Kanton Neuenburg sind zu Strahlungszentren solchen Bemühens geworden, das bis ins ferne Indien reicht, wo es heute in Anknüpfung an altindische Einsiedeleien evangelische und katholische „Ashrams“ gibt.
In Deutschland ist man in dieser Hinsicht noch am weitesten zurück. Hier pflegt sich das kirchliche Leben noch in ziemlich ausgefahrenen Geleisen zu bewegen. Und was speziell die protestantische Seite angeht, so scheint man mehr auf eine anspruchsvolle und entsprechend abstrakte Theologie als auf eine Verleiblichung des Evangeliums bedacht. So konnte der beinahe schon kuriose Fall eintreten, dass das wohl bedeutendste Einkehrzentrum, das es hierzulande gibt, die sogenannte Untermühle im alten Schloss der Herren von Trott zu Solz im hessischen Imshausen, bis heute ein wahres Aschenbrödeldasein führt und trotz einer langjährigen und guten Arbeit noch kaum bekanntgeworden ist. – Die „Solztrotten“ zu Imshausen sind merkwürdige Leute. In einer Zeit, in der die Edelleute auszusterben scheinen, bringen sie, die jahrhundertelang ein Geschlecht des mittleren Adels ohne besonderen Glanz waren, eine Reihe bemerkenswerter Persönlichkeiten hervor. Adam von Trott zu Solz war einer der geistigen Führer des 20. Juli 1944 und wurde einige Monate danach hingerichtet. Sein Vater, August von Trott, war einer der letzten Kultusminister des Königreichs Preußen, ein Trott der Generation zuvor kurfürstlich hessischer Minister des Auswärtigen. Der Großvater von Mutters Seite war General von Schweinitz, der bedeutende deutsche Botschafter in Wien und St. Petersburg. Andere mütterliche Vorfahren, die Jays, deren Ahnherr ein Freund George Washingtons war, haben in der jungen Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika eine Rolle gespielt. – Vera von Trott, die Mutter der Untermühle17, ist eine Schwester des hingerichteten Adam, zu dessen Gedenken auf den Höhen über Imshausen ein mächtiges Kreuz errichtet worden ist. Während er als werdender Diplomat in den Hauptstädten Europas weilte, tat sie, die im Berliner Burckhardhaus als Gemeindehelferin ausgebildet worden war, in den Dörfern des Solzbachtales und seiner Nachbartäler bescheidene kirchliche Jugend- und Kinderarbeit, deren erstes Zentrum kurioserweise die Küche des väterlichen Gutshauses war. So anspruchslos und schlicht diese Arbeit war, so führte doch auch sie auf eine nicht minder bedeutende Ahnenschaft geistlicher Art zurück: Die vorige Generation der Solzer Trotten hatte nicht nur mit dem als Solzer Pfarrerssohn geborenen August Vilmar, sondern auch mit Wilhelm Löhe in Neuendettelsau und mit den Blumhardts in Möttlingen und Bad Boll Verbindung. Die letztere Verbindung besteht sogar bis heute fort: der vorige „Lehrmeister“ auf der Untermühle war ein Enkel der letzten Blumhardt-Tochter in Bad Boll, und als in diesem Jahr wie alljährlich zu Epiphanias das Oberuferer Dreikönigsspiel aufgeführt wurde, wirkten nicht weniger als drei Urenkel des alten Blumhardt dabei mit.
Als der ehemalige Kultusminister 1938, weit über achtzig Jahre alt, starb, war seine Tochter inzwischen in die halbwegs zwischen Imshausen und Solz gelegene Untermühle übergesiedelt in eine ebenso romantische wie verwahrloste Behausung, in der mit frischen Kräften eine ganz neue Arbeit begann. Die sangesfreudigen Untermüller veranstalteten in ihrer Mühle, nachdem sie sie wieder bewohnbar gemacht hatten, Jugend- und Kinderfreizeiten, die wachsenden Zuspruch, aber auch steigenden Argwohn des Hitlerstaates fanden, der die Untermühle schließlich nach dem 20. Juli der Aufgabe der Jugendbetreuung unwürdig erklärte.
Wie durch ein Wunder überstand die Untermühle aber den Zusammenbruch, und nun begann abermals ein neues Stadium ihrer Arbeit. Aus einem Zufluchtsort für Kinder in den turbulenten Nachkriegsjahren entwickelte sich ein regelrechtes Kinderheim mit durchschnittlich etwa sechzig Kindern aller Altersstufen, dem allerdings schon wegen seiner Lage in einem Zonengrenzbezirk ganz besondere Aufgaben zufielen und das auch in mancher anderen Hinsicht ein Kinderhaus ganz eigener Art und Prägung wurde. Von jeher war in der Untermühle viel gesungen worden. Begabte Kirchenmusiker wie Gerhard Schwarz waren schon von vergangenen Singefreizeiten her dem Hause eng verbunden. Aus Begegnungen mit den Alpirsbachern, die die Gregorianik neu entdeckt hatten, erwuchs ein immer intensiveres liturgisches Leben, durch das dieses Haus der Kinder mit den Jahren fast das Gepräge eines evangelischen Ordenshauses erhalten hat.

Nach zehn Jahren aus seiner Mühle verdrängt, musste das Kinderheim 1948 eine neue Behausung suchen, die es nunmehr infolge einiger überraschender Fügungen im schloßartigen Gutshaus der Trotten zu Imshausen fand. Nun wurde es vollends zu einem geistlichen Zentrum besonderer Art. Es hat nie auch nur einen Augenblick seinen Charakter als ein Ort der Zuflucht für Kinder ohne Heimat und Elternhaus preisgegeben. Es ist sogar immer mehr zur Zufluchtsstätte geworden: kirchliche wie kommunale Stellen pflegen gerade ihre schwierigsten Fälle, für die sie sonst gar keinen Rat wissen, nach Imshausen zu schicken. – Aber inzwischen sind der Untermühle – wie sie immer noch genannt wird, obwohl mittlerweile in einem Schlosse angesessen – ganz andere und noch bedeutendere Aufgaben zugewachsen. Aus den Hunderten und Aberhunderten, ja vielleicht Tausenden von Kindern, die im Laufe der Jahre durch die Untermühle gingen, sind junge Frauen und Männer geworden, die dem Hause weiter mit ungewöhnlicher Treue anhängen. Als das Imshäuser Schloss bald nach der Übersiedlung zu eng wurde, taten sich die ehemaligen Untermüller zu einer Baumannschaft zusammen, die in zwei aufeinanderfolgenden Sommern unter Anleitung eines Fachkundigen zwei Fachwerkhäuser errichteten, in denen jetzt ein Teil der Kinder untergebracht ist. – Aus dieser Gruppe ebenso besinnlicher wie tatenlustiger junger Männer ist in den letzten drei Jahren die sogenannte Kumpanei der Untermühle hervorgegangen, die durchaus nicht nur aus ehemaligen Untermüllern besteht, sondern auch auf andere junge Menschen eine wachsende Anziehungskraft ausübt. Studenten verbringen hier ihre Semesterferien, künftige Heimleiter ihre Praktikantenzeit. Einem Junglehrer, dem das Elternhaus vieles schuldig geblieben ist und der nun seinen künftigen Zöglingen nicht ebensoviel schuldig bleiben möchte, wurde auf einem Amt von der Untermühle als einem Ort erzählt, an dem man „anders“ würde. Er ist hingegangen. – Alljährlich pflegt die Kumpanei zu Weihnachten die drei überlieferten Oberuferer Spiele aufzuführen, in der Adventszeit das Paradeisspiel, in den zwölf heiligen Nächten nach Weihnachten das Krippenspiel und zu Epiphanias das Spiel von den heiligen drei Königen. Die Jungen und Mädchen sind beim Einstudieren der drei Spiele von einem ungewöhnlichen Ernst und Eifer beseelt. Sie müssen sich um die gar nicht einfachen Rollen dieser Bauernspiele sehr bemühen. Sie haben dazu, wie ehedem die Bauernburschen von Oberurff, einen eigenen Lehrmeister gewählt, der ein ganzes diakonisches Jahr in der Untermühle verbringt. Und es bedarf darüber hinaus der tatkäftigen Hilfe von „Bruder Hans“, der die liturgischen Dienste des Hauses versieht, sowie des ständigen Rates der Hausmutter Vera von Trott, ehe etwas Gutes und Brauchbares herauskommt. Aber es ist dann eine Freude zu sehen, wie die jungen Menschen in ihre Rollen hineinwachsen und an ihnen reifen. Und wenn sie ihrer dann Herr geworden sind, behalten sie ihren Gewinn nicht für sich, sondern ziehen mit den Spielen rings in die Dörfer des Richelsdorfer Gebirges und bis hin in das alte Landgrafenstädtchen Rotenburg an der Fulda, dessen Landrat ein Freund des Hauses ist. – So quillt dieses merkwürdige Haus von Leben geradezu über. Verhärmte und verstörte Kinder werden in seiner besonderen Atmosphäre in wenigen Wochen zu frischen und strahlenden Gottesgeschöpfen. Und auch so mancher müde und abgehetzte Erwachsene ist in diesem Kinderhaus durch eine „Retraite“ wieder zu sich selbst geführt und in einen neuen Menschen verwandelt worden. Zwar beschränken sich solche Einkehrzeiten, die das Haus nach dem Vorbild von Grandchamp und Iona veranstaltet, fürs erste noch auf gelegentliche Versuche, aber da in Imshausen seit vielen Jahren mit großer Regelmäßigkeit die Deutsche Messe nach der Ordnung der Michaelsbruderschaft gefeiert wird, fehlt es nicht an gediegener Zurüstungsarbeit. – Man sollte meinen, dass solch pulsierendes und in vielerlei Weise weit in das Land hinausstrahlendes Leben von einer Kirche, deren Gotteshäuser immer leerer werden, mit der größten Bereitwilligkeit akzeptiert und gefördert würde. Jedoch findet die Untermühle bis jetzt einen stärkeren Rückhalt als bei den kirchlichen Instanzen bei denen der weltlichen Öffentlichkeit. Hier weiß man immerhin die Qualität der Arbeit zu schätzen, die in diesem Hause getan wird. Aber auch in dieser Hinsicht bleibt noch unendlich viel zu wünschen übrig. Die Untermüller sind noch heute erschreckend arm. Wenn sie auch nicht mehr in jener unvorstellbaren Armut wie vor zehn Jahren leben, wo ein als Gast in ihre Mühle gekommener Franziskanermönch sagte, hier habe er erst wirkliche Armut kennen gelernt, so fehlt es doch immer wieder und wieder am Allernötigsten.
Daß das Personal des Hauses ohne Bezahlung arbeitet, beruht auf dessen freiwilligem Verzicht und sollte wohl auch so bleiben. Aber dass jede Reparatur, etwa an den uralten und verfallenen Schornsteinen, zu einem Existenzproblem für das Haus wird, das sollte in einer Zeit, in der so viel Geld für die unsinnigsten Dinge ausgegeben wird, nicht sein. Als Vera von Trott vor einiger Zeit in einer ganz dringenden Notsituation den Bundespräsidenten Heuß um eine Beihilfe von 5000 Mark bat, wurden ihr 500 bewilligt. Vielleicht hätte er die umgekehrte Rechnung gemacht und 50000 Mark gegeben, wenn er das Haus und seine Arbeit selbst kennen gelernt hätte. Denn wo könnten solche Summen bessere und sinnvollere Verwendung finden als in einem Hause, das nicht allein den Kindern Zuflucht und Heimat, sondern allen Menschen Einkehr und Besinnung zu schenken bereit ist?“18

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Vera hatte speziell an uns „Thingjungen“ einen besonderen Narren gefressen. Wir mußten jeden Sonntag zu ihr in die „Stunde“ kommen, deren Sinn wir damals wohl alle nicht so recht verstanden und auch manchmal wegen Langweile schwänzten. Angetan mit dem bestickten blauen Hessenkittel, der so manches verschmutzte Hemd einfach überdeckte, ließ sie uns Konzentrations- und Sitzübungen machen, das „Ommm“ tibetischer Mönche summen, mit dem Pinsel kreisrunde „Oos“ malen oder ihre zahlreichen Bildbände über alte vorderorientalische Kulturen besehen. Dazu erzählte sie uns alttestamentliche Geschichten von Daniel in der Löwengrube oder den drei Männern im Feuerofen. Eines Tages hieß es, wir Thingjungen sollten alle Lateinunterricht bekommen. Barbara, die vielleicht Englisch, aber nicht Latein konnte, hatte zu diesem Zweck immer ein Kapitel im Lehrbuch voraus zu lernen und uns anschließend zu erläutern. Manche gaben bald auf, denn wozu sollten sie „agricola“ – der Bauer und „domina“ – die Herrin lernen? Der Sinn des ganzen Unternehmens blieb dunkel. Später ging mir auf, dass das Teil eines allmählichen Umwandlungsprozesses der Hausgemeinschaft war. Roger Schutz19 aus Taizé hielt sich längere Zeit bei uns auf. Dann hörte ich Wolfgang, den Landwirt, spotten, wenn es nach der Vera ginge, liefen wir bald alle mit Kutten herum. Wir sollten wohl später auf Latein die Wechselgesänge bei den Stundengebeten und Messen singen.

Wolfgang verschwand kurz darauf mit Margot, die als Diakonisse zu uns gekommen war, und man munkelte, die beiden hätten was miteinander und wollten heiraten. So etwas hatte ich schon beim ersten Aufenthalt 1950 mitbekommen. Hermann, der als desillusionierter Soldat in Imshausen hängengeblieben war und mir aus seiner Gefangenschaft erzählte, war eines Tages auch mit der Christa aus der Küche verschwunden. Die Musikstudentin Renate befaßte sich mit dem angehenden Architekten Michael aus offenkundigem persönlichem Interesse, aber der grenzte sich mit seinem Wunsch, in der Kommunität leben zu wollen, klar ab. Renate verschwand. Tragisch verlief der Wunsch von Richard, mit Ulla in näheren Kontakt zu kommen. Ich vermute, dass er zurückgewiesen wurde; er litt an Depressionen – und später hörte man unter der Hand Gerüchte von seinem Suicid. Offen geredet wurde über solche Vorgänge nicht. Hans Georg und Eva jedoch demonstrierten offen ihre Zuneigung und behaupteten auch ihre Lebensform gegenüber der Kommunität. Akzeptiert wurde das aber wohl nicht vollständig. Noch bei der Trauung, die Bruder Hans vornahm, soll von der „Wollust“ in abwertendem Sinne die Rede gewesen sein, obwohl der davon sprechende „Urchrist“ Paulus sie nie abgewertet, sondern als zweitrangig gegenüber dem von ihm erwarteten baldigen Weltende hervorgehoben und die Ehe als die angemessene Lebensform bezeichnet hatte.

Die Zugehörigkeit zur Lebensform der Kommunität zeigten die Erwachsenen nach „Profess“-Erklärung mit goldenen Handreifen, und bei den liturgischen Anlässen mit dem Tragen von weißen Kutten. Die „niederdeutsche Kumpaney“ der jungen Helfer war schließlich aufgelöst zugunsten dieser geistlichen Gemeinschaft.

1Wulfs Stiefmutter

2 In die Psalmodierung eingeschobene Zwischengesänge

3 Bei den in Imshausen üblichen Stundengebeten Laudes oder Morgenfeier (7 h), Tischgesang, später die von Gerhard Schwarz komponierten Seligpreisungen (Mt 5) (13h), die der Akustik wegen mittags im Treppenhaus gesungen wurden, Abendfeier (19.30 h) und Komplet (22.00 h) handelte es sich um bewußt gesetzte Eckdaten des Tages, an denen sich die gesamte Hausgemeinschaft orientierte.

4 Kirchenmusiker und Organist, lebte von 1902 bis 1995. Er verfaßte unter dem Eindruck der Singbewegung v Fritz Jöde für das weit verbreitete „Geselligen Chorbuch“ einen vierstimmigen Kalender, der gerade in Imshausen gern gesungen wurde. Lt. Wikipedia: „Schwarz studierte Kirchen- und Schulmusik, sowie Philosophie und Musikwissenschaft in Berlin. Am 1. November 1932 wurde er Mitglied der NSDAP und unter der Nr. 1.467.044 registriert. Er gründete die Berliner Kirchenmusikschule im Johannesstift in Spandau und war Organist an der neuen Kirche in Berlin. Nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten bearbeitete er das Fahnenlied der NSDAP und komponierte in der Folge verschiedene Gebrauchsmusikstücke im Sinne des Nationalsozialismus. 1934 wurde er Sachbearbeiter beim Reichsjugendpfarrer. Daneben war er Musikreferent beim Oberbann Süd der Hitlerjugend der „Kurmark“, wurde jedoch 1936 wegen des Verdachts der Homosexualität aus diesem Amt entfernt. 1940 war er Organist in Düsseldorf. 1941 wurde er zur Wehrmacht eingezogen, der er bis 1945 angehörte. Er diente als Gefreiter beim schlesischen Landes-Schützen-Bataillon 590 und war unter anderem in Schweidnitz zur Bewachung von Gefangenen eingesetzt. 1944 wurde er kurzfristig Oberorganist von Sankt Bernhard in Breslau.

1946 übersiedelte er zunächst nach Erfurt. 1947 wurde Schwarz Lehrer an den Musikhochschulen in Leipzig und Berlin. 1949 wechselte er nach Düsseldorf, wo er Direktor der Landeskirchenmusikschule und Organist der Johanneskirche wurde. 1961 wurde er Professor für Improvisation an der Hochschule für Musik Köln. 1968 erhielt er den Johann-Wenzel-Stamitz-Preis.

5 Treffpunkt und Kinderhausort vor dem Umzug nach Imshausen, bis ca.1949

6 Weithin bei Kirchenchören gebräuchliches geistliches Chorbuch mit zwei- bis sechsstimmigen Sätzen

7 Kommunität, die während des Krieges durch Roger Schütz in Burgund gegründet wurde.

8Nach Walter Tappolet 1954 über Eindrücke in Imshausen

9 Manuel Zimmermann hat von Siegrid erfahren: Barbara Kubale, ihre Mutter, hatte einen adeligen Geburtsnamen (von Perbandt). Bei Fides von Gontard legte sie ihr Wohlfahrtspflegerexamen in Kassel ab, kam durch deren Vermittlung als Kriegerwitwe mit ihrer Tochter Siegrid – diese war damals sechs Jahre alt – zu Vera v. Trott zunächst in die Untermühle, dann in das Schloss der Trotten. Siegrid habe behauptet, nie gewusst zu haben, wo ihre Mutter dort übernachtete, während sie selbst im „Schafstall“, der Gruppe für Säuglinge, Kleinkinder und Mädchen unterkam. Barbara widmete ihr wenig Zeit, was Siegrid noch als alte Frau belastet, die glaube, die Mutter habe es ihr verübelt, als Mädchen und nicht als Junge geboren zu sein. Der Name Siegrid, ungewöhnlich mit „ie“ geschrieben, sollte eigentlich Siegfried lauten. Barbara erledigte auch die gesamte Buchführung der Imshäuser, sorgte für die Eintreibung von Außenständen und die damit verbundene umfangreiche Korrespondenz. Neben diesem Fulltimejob betreute sie auch noch die 8 – 10 „Thingjungen“, eben unsere Altersgruppe von 10 bis 13 Jahren, keinesfalls leicht zu handhabende Kaliber bei den Störungen, die wir alle mitbrachten. Sie hatte also schon objektiv wenig Zeit für die Tochter, gleichgültig was diese dabei als Ablehnung empfand. Um Siegrid kümmerte sich schließlich Liese Hohmann, von der Siegrid zunächst regelmäßig von der Schule abgeholt und zur Untermühle gebracht wurde (ca. 1 km Weg). Barbara Kubale wurde im Rahmen der Heimreform in den Siebzigerjahren bekannt als Begründerin der „Marbach-GmbH“. Dieser nordhessischen Vereinigung gehörten alters- und geschlechtsgemischte Familiengruppen in Kinderhäusern an, die von einem Paar, meist ein/e SozialarbeiterIn oder ErzieherIn sowie ein anderweitiger Beruf beim Partner, geleitet wurden. Das Konzept dieser Kinderhäuser, oft in einem Fachwerkhaus in einem Dorf, war bewusst nach dem Imshäuser Kinderhausmodell ausgerichtet.

10 Feststehendes Messer mit Lederscheide

11 Günther Burckhardt wuchs als Einzelkind auf und wurde daher oft von seinen Eltern in den kinderreichen Haushalt der Eisenbergs in Kassel gegeben. Vor dem 2. Weltkrieg gehörte man gemeinsam in den Kreis der Untermühle, wo man mit jungen Leuten Singfreizeiten abhielt und Gedankenaustausch pflegte. Nach dem Krieg kam man wieder zusammen – inzwischen war 1949 das Kinderhaus Imshausen entstanden, wo man gemeinsam lebte, bis Günther Burckhardt, inzwischen hatte er seine medizinische Praxis eröffnet, heiratete. Die Frau, eine Psychotherapeutin, stand den Imshäusern wegen der fehlenden Toleranz gegenüber dem Sexuellen recht kritisch gegenüber, vermochte es aber nicht, ihren Mann auf Distanz zu Imshausen gehen zu lassen. Günther Burckhardt war später als Pensionär sehr aktiv bei den Grünen und engagierte sich für Umweltpolitik.

12 Ich habe deutsche Grammatik und eine bewußt instrumentale Verwendung der deutschen Sprache eigentlich erst mit dem Lateinunterricht auf dem Gymnasium erlernt.

13 Die aus Leichtmetall oder Holz bestehenden Verbindungsstücke von der Taste bis zum Pfeifenventil

14 Veras Vater war preußischer Kulturminister, die Mutter entstammte einer bekannten amerikanischen Familie . Die Geschwister Monika, Werner, Adam – im Widerstand während der Nazizeit ermordet – , Heinrich und die geistig behinderte Ello wuchsen sämtlich zuhause auf. Liese, eine robuste Bauerntochter aus Imshausen, gehörte szt. diesem Haushalt im Schloss an.

15 Lieber tot als ein Sklave sein

16 Die Höhlenkinder ist eine Jugendbuch-Trilogie des böhmischen Schriftstellers Alois Tlučhoř, die er unter dem Pseudonym Alois Theodor Sonnleitner zwischen 1918 bis 1920 schrieb. Die dreiteilige Erzählung beginnt nach dem Dreißigjährigen Krieg. Das dreijährige Waisenkind Eva lebt bei seiner Großmutter, der „Ahnl“, im Stodertal nördlich des Toten Gebirges. Nach einem Unwetter wird diese der Hexerei verdächtigt und flieht mit dem Mädchen auf den Schultern zu ihrem Bruder Hans, der sein Leben als Köhler im Wald, in einem Seitengraben des Eisacktals fristet. Erneut wird sie als Hexe angeklagt. Der Großonkel (im Buch „Ähnl“ genannt) kennt einen versteckten Platz, zu dem man nur durch eine gefährliche Klamm Zutritt hat und der deswegen von den Menschen gemieden wird, den „Heimlichen Grund“. Dorthin flieht sie allein für einige Monate. Als sie zum Bruder zurückkehrt, bringt sie den unterwegs aufgelesenen Waisenknaben Peter mit, der etwa zwei bis drei Jahre älter ist als Eva und sich mit dieser anfreundet. Die beiden müssen den Pflegeeltern bei der täglichen Arbeit helfen, in Haus und Stall, beim Hüten der Ziegen, beim Sammeln von Beeren, Pilzen und essbaren Wurzeln. Als sie zehn bzw. dreizehn Jahre alt sind, wird die „Ahnl“ ein drittes Mal als Hexe verdächtigt, und nun fliehen alle vier vor den Häschern der Meraner Gerichtsbarkeit in den „Heimlichen Grund“. Aus den geographischen, geologischen (eine Glimmerschieferhalde, Granitbrocken u. ä.) sowie astronomischen Andeutungen (im Winter geht die Sonne über dem Monte Cristallo auf) lässt sich schließen, dass Sonnleitner seinen „Heimlichen Grund“ in den Sarntaler Alpen gedacht hat. Der Ähnl wird beim nächtlichen Anstieg durch die Klamm von einer Steinlawine erschlagen, die Ahnl stirbt wenig später an Erschöpfung. Mutterseelenallein, ohne jegliches Werkzeug, von der Außenwelt völlig abgeschnitten, ganz auf sich selbst gestellt, sind die Kinder gezwungen, ihr Leben nach Art der Urmenschen zu fristen. Anhand der Beschreibung des Lebenslaufs der beiden Kinder lässt Sonnleitner die Entwicklungsgeschichte der Menschheit von der Steinzeit über die Bronzezeit bis zur Eisenzeit an dem jugendlichen Leser im Zeitraffertempo vorüberziehen. Peter und Eva kennen die im täglichen Leben der damaligen Zeit benutzten Geräte und Werkzeuge. Sie wissen, welche wildwachsenden Pflanzen, Beeren und Pilze essbar sind und welche nicht – jetzt müssen sie „lediglich“ versuchen, die zum Überleben notwendigen Geräte, Werkzeuge und Waffen aus den Stoffen, die die Natur ihnen bietet, herzustellen und Essbares in ihrem abgeschlossenen Tal, dem „Heimlichen Grund“, zu finden. (Wikipedia)

17 Vera von Trott hatte schon vor und während des Krieges Bekannte und Freunde um sich gesammelt, mit denen sie nach dem Krieg die Kinderhausarbeit zunächst in der sog. Untermühle – auf halber Höhe zwischen Solz und Imshausen gelegen – begann und ab 1948/49 im Schloss von Imshausen weiterführte.

18 Christoph Obermüller Quatember 1954 (S. 240-242)

19 Frère Roger Schutz (siehe kleines Foto, franz. Frère „Bruder“; * 1915 † 2005 ) war Gründer und lebenslanger Prior der ökumenischen Bruderschaft von Taizé (Communauté de Taizé). Frère Roger selbst schrieb: „Geprägt vom Lebenszeugnis meiner Großmutter fand ich, wie sie, meine Identität als Christ darin, in mir den Glauben meiner Ursprünge mit dem Geheimnis des katholischen Glaubens zu versöhnen, ohne mit irgendjemandem zu brechen.“ Er wurde 2005 von einer Geistesgestörten öffentlich ermordet.

Selbstverbrennung oder Kampf

Manuel Zimmermann: Wie ich Atomkraft-Gegner wurde und arbeitete

Es muss an einem Wochentag im April 1970 gewesen sein. Seit Februar unterrichtete ich in Kassel an der Möncheberg-Schule, einer Sonderschule, als „Außerplanmäßiger Lehrer“ (Apl.-Lehrer), wie damals die zweite Phase der Lehrer-Ausbildung hieß, und fuhr am Wochenende immer noch nach Gießen, wo ich bisher studiert und anschließend drei Semester als Forschungsassistent1 gearbeitet hatte, denn die Suche nach einer neuen Wohnung gestaltete sich schwierig. Ich hatte es wohl eilig, als ich den unteren Teil der Ludwig-Mond-Straße in Richtung Frankfurter Straße eilte, weil ich zur Mittagszeit kurz vor zwei an der Kreuzung ein preiswertes Restaurant aufsuchen wollte.

Da kam mir mit großen Schritten Hartmut Gründler entgegen. Wir hatten uns 13 Jahre zuvor in Imshausen bei Bebra freundschaftlich kennengelernt. Als wir uns gegenseitig erkannten begrüßten wir uns freudig. Hatte ich doch bis dahin kaum Bekannte in Kassel, und mir war er noch von Imshausen her überaus angenehm in Erinnerung, wo er Ostern 1957 vorher sogar bei meiner Verabschiedung (Foto) dabei war. Wie lange Hartmut dort war, weiß ich nicht. Vermutlich hat er sich ein Jahr lang als eine Art Praktikant um die Jungengruppe verdient gemacht. In seinen Biografien fehlt diese Zeit. Auf dem Foto, das mein Stiefvater damals von der „Abschiedszeremonie“ auf der Terrasse des Herrenhauses derer von Trott vor dem Rosenbeet machte, steht Hartmut mit seiner markanten Intellektuellen-Miene im Hintergrund am Türrahmen.

Meine Freude über die Begegnung war also enorm und ich schlug ihm vor, mit ins nahegelegene Restaurant zu kommen, um uns etwas über die inzwischen verstrichene Zeit zu erzählen. Zu meiner Enttäuschung lehnte er dies Ansinnen rigoros ab und erklärte mir, dass er gar keine Zeit habe, weil er sich mit einigen Leuten verabredet habe. Es gehe um Würgassen, sagte er. Auf meine Ahnungslosigkeit antwortete er etwa mit den Worten „Dort wird ein Atomkraftwerk gebaut. Das ist furchtbar gefährlich, für die gesamte Menschheit. Dagegen muss man unbedingt etwas tun!“, und verabschiedete sich schon. Aha, Würgassen also. Davon wusste ich nichts. Das liegt im östlichsten Westfalen an der Weser etwa 35 Kilometer nördlich von Kassel.2 Und ich hatte täglich meinen Nahkampf mit Schülern zu bestehen.

Obwohl in jener Zeit schon einige Jahre SPD-Mitglied und nun auch in Kassel politisch engagiert, war mir das Thema Atomenergie bis dahin kaum untergekommen. Als Schreiner, der auf dem Zweiten Bildungsweg Abitur gemacht und es nun bis zum Lehrer gebracht hatte, war ich natürlich auf soziale Ungerechtigkeiten und Bildungspolitik, die damals vor allem in der Auseinandersetzung um die Gesamtschule bestand, abonniert.

Im November 1977, als ich dann bei Frankenberg in Frankenau-Ellershausen gerade eine alte Mühle zum neuen Familienwohnsitz ausbaute, erfuhr ich aus Zeitung, Radio und Fernsehen von Hartmuts Selbstverbrennung, die er als letztes Mittel in seinem mittlerweile jahrzehntelangen Kampf gegen die Lügen und Verheimlichungen in der bundesdeutschen Atompolitik einsetzte. In der Zwischenzeit – damals noch Lehrer in Kassel – war ich aus der SPD ausgetreten, weil mich der Verrat an Idealen in der Partei empörte3. Aber ich hatte in ihr ein nützliches Instrument für öffentliche Auseinandersetzungen kennengelernt, von dem ich wusste, wie es gut funktioniert, wenn man Verbündete findet.4 Mir schien, Hartmut hätte besser nicht nur außerhalb sondern auch in dieser großen Organisation für seine Überzeugungen und gegen die Atompolitik des Bundeskanzlers Helmut Schmidts kämpfen sollen.5 6

Ziemlich genau fünf Jahre später – ich unterrichtete in Frankenberg/Eder, war seit einiger Zeit Mitglied in der „Bürgerinitiative Umweltschutz Frankenberg“ (BIUF) und hatte gerade das über alle Bereiche der Atomenergie informierende Buch „Friedlich in die Katastrophe“7 von Holger Strohm gelesen – hieß es Anfang Dezember 1981, im Wald bei dem nahen Bergdorf Wangershausen, einem Stadtteil von Frankenberg, solle eventuell eine Wiederaufarbeitungsanlage (WAA) gebaut werden.8 Dass diese in Wahrheit eine Plutoniumfabrik war, wusste ich aus dem Buch, wie politische Willensbildung funktioniert und wie eine wirksame Pressearbeit gemacht werden muss, aus der SPD. Dies Wissen nutzte ich dann in der BIUF für den Kampf zur Verhinderung der WAA.

Geschickt hatte die Landesregierung nämlich Wangershausen als einen von zwei möglichen Standorten benannt, sodass in den BI-Diskussionen zunächst manche die endgültige Standort-Entscheidung abwarten wollten. Am Anfang, also kurz nach der ersten Nachricht vom 2. Dezember 1981, derzufolge bei Wangershausen ein WAA-Standort geplant sei, rief ich nach dem von mir angestrebten BI-Beschluss zum Widerstand noch am selben Abend einen mir aus meiner Kasseler Zeit bekannten Mann einer Kollegin, der als Journalist für dpa und Hessischen Rundfunk arbeitete, an und am übernächsten Tag war die Meldung hessen- und bundesweit bekannt. So wurde ich BI-Pressesprecher, folglich auch der Koordinationskonferenz aller rasch dazu kommenden BIs.

Denn ich wusste aufgrund meiner Erfahrungen als mehrfacher Studentenfunktionär und mehrjähriges aktives SPD-Mitglied, dass nur offenstehende politische Entscheidungen beeinflusste werden können, und zwar mit einer unkalkulierbar großen Zahl an Wählerstimmen, nicht aber durch einen Märtyrer-Tod.

Als Grundlage des Widerstandes musste jedenfalls die kompetente Information der ansässigen Bevölkerung organisiert werden. Das haben Studienrat Gerhard Kalden und der Referendar Kurt-Willi Julius in der Advents- und Weihnachtszeit 1981/82 mit Info-Abenden in den Ortschaften des Frankenberger Landes zum Thema „Was ist eine WAA“ so erfolgreich gemacht, dass sich jedesmal eine BI konstituierte und die neu gewonnenen Kenntnisse weiter vermittelte. So entstanden bis zu Beginn der Sommerferien 1982 schließlich 32 Bürgerinitiativen9 gegen die WAA rings um Wangershausen – auch über die Landesgrenze zu NRW – deren Sprecher ich geworden war.

Dieser furiose Start führte dazu, dass die Medien uns stets wohlgesonnen waren und einfallsreich über die von Anfang an phantasievollen Demonstrationen mit Teilnehmerzahlen von 5.000 bis 12.000 WAA-Gegnern berichteten. Das Ergebnis war höchst effektiv10. Sicher im globalen Maßstab nur etwas klein. Vielleicht hätte ich mich weiterhin und noch professioneller in den Widerstand gegen die Atompolitik einbringen sollen. Immerhin war es doch ein Erfolg für die zig-tausend Menschen in den Bürgerinitiativen – ohne Selbstverbrennung und ohne gewaltsame Aktionen.

Wir alle waren überzeugt, uns erfolgreich in die große Politik eingemischt und geholfen hatten, den Mächtigen zunächst ein ihnen wichtiges Projekt aus der Hand geschlagen zu haben: „Die FDP, die auf Bundesebene die sozialliberale Koalition bereits aufgekündigt hatte, scheiterte mit 3,1 % an der Fünf-Prozent-Hürde, SPD und Grüne erzielten zusammengerechnet zwar über 50 % der abgegebenen Stimmen, eine Zusammenarbeit kam aber für beide Parteien (noch) nicht in Frage. Daher gab es im Hessischen Landtag keine regierungsfähige Mehrheit. Der bisherige Ministerpräsident Holger Börner stand bis zur Selbstauflösung des Landtags und den vorgezogenen Neuwahlen im September 1983 einer geschäftsführenden Landesregierung vor.“ (Wikipedia)

Mein Name landete daraufhin offensichtlich auf einigen schwarzen Listen der Atom-Lobby. Dies will ich vorsichtshalber als Arbeitshypothese bezeichnen, um einige, meine existenziellen Möglichkeiten beeinträchtigenden Merkwürdigkeiten in meinem weiteren Lebenslauf zu erklären. Zu dieser Lobby darf zweifelsohne die FDP gerechnet werden. Denn schon bald nach Beginn unserer Anti-WAA-Kampagne erhielt ich aus absolut sicherer Quelle11 die Information, dass mein Name an erster Stelle auf einer rot umrandeten BI-Liste des hessischen Innenministers gegen die WAA in Wangershausen stand. Der Innenminister war damals Ekkehard Gries von der FDP. Dieselbe Partei stellte damals auch den Minister für Wirtschaft und Technik, Klaus-Jürgen Hoffie. Dieser hatte im April 1982 die Chuzpe, sich in der überfüllten Sachsenberger Festhalle einer Podiumsdiskussion „Pro und Kontra WAA“ zu stellen, in der er sich – konsequent seinem Parteiprogramm folgend – bedingungslos für die Nutzung der Atomkraft aussprach und sich mit seiner faktischen Unkenntnis bis auf die Knochen blamierte.

Denn die Menschen im Publikum hatten sich im Laufe der vorangegangenen fünf Monate selbst sachkundig gemacht, waren entweder nach Karlsruhe in die (damals defekte) Versuchs-WAA gefahren oder hatten sich durch Fachbücher und den Besuch einschlägiger Vorträge kundig gemacht. Hoffie aber konnte kaum die verschiedenen Radioisotope und deren Strahlung auseinander halten, wollte aber das demokratische Mandat als Berechtigung für höchst riskante Technologie-Entscheidungen ins Feld führen. Als ich ihn in der bis auf den letzten Platz gefüllten Halle fragte, wie er denn mit seinem vierjährigen Mandat beispielsweise die Erzeugung von Plutonium mit dessen Halbwertszeit von 24.000 Jahren verantworten wolle, applaudierte der ganze Saal und ihm fiel keine Antwort ein.

Für die Standortentscheidung der hessischen Landesregierung für Frankenberg-Wangershausen am 21. Juli 1982, kurz nach Ferienbeginn, waren wir Bürgerinitiativen deswegen gut vorbereitet, weil wir sie schon zuvor durch unsere informationelle Infrastruktur kannten. Für die Vorbereitung der für den folgenden Samstag geplante Großdemo hatten wir eine Telefonkette eingerichtet.

Hartnäckig hielt die FDP, im Gegensatz zu SPD und CDU (die beide auf lokaler Ebene der Errichtung einer WAA nur dann zustimmen wollten, wenn die absolute Sicherheit garantiert wäre) in der Auseinandersetzung um die WAA an ihrer Nibelungentreue zur Atom-Lobby fest. Nur die noch nicht im Landtag sitzenden GRÜNEN waren radikal gegen Atomkraft. Folgerichtig bekam die FDP bei der hessischen Landtagswahl im Herbst 1982 keine fünf Prozent der Stimmen12, auch ausgerechnet in ihrer bisherigen Hochburg, dem Frankenberger Land. SPD-Mann Holger Börner hatte keinen Koalitionspartner mehr und musste über ein Jahr lang ohne Mehrheit regieren, bis er dann nach der Neuwahl Anfang 1984 mit den Grünen und Joschka Fischer koalierte, weil die FDP auch da wieder nicht im Landtag saß.

https://de.wikipedia.org/wiki/Landtagswahl_in_Hessen_1982#Ausgangssituation

An dieser Konstellation hatte ich fleißig mitgewirkt. In der Folgezeit engagierte ich mich zunächst bei der lokalen SPD und später bei den Grünen des Kreises Waldeck-Frankenberg, deren Sprecher ich bald darauf wurde. Währenddessen begann sich meine Ehe und somit die Familie aufzulösen und ich musste zwangsläufig Anwälte zu Rate ziehen.

Es gilt als offenes Geheimnis, dass die FDP vor allem eine Klientel-Partei mit einem überproportional hohen Anteil an freiberuflichen und beamteten Juristen ist. Diese unterstützen selbstverständlich die Verwirklichung des Parteiprogramms wo immer es geht, offen parlamentarisch oder unterschwellig durch entsprechende Beratung und/oder richterliche Beschlüsse. Jedenfalls betrieb diese Partei den programmatisch unbedingten Atomkurs und es entstand in meinem Fall durch die für mich negative Beratung einer Rechtsanwältin mit FDP-Parteibuch, die mich in Sachen Ehescheidung vertreten und beraten sollte, ein lebenslang finanzieller Schaden.13

Fazit

Mein intuitives Bestreben, mich mit meinen Kenntnissen für eine gute und richtige Sache einzusetzen, und mein Ehrgeiz, es besser oder wirksamer zu machen als Hartmut Gründler, brachten mich zwar in enorme Schwierigkeiten, aber doch nicht um. Allerdings hatte sich Hartmut ja gegen die Atompolitik als Ganzes engagiert, wohingegen ich ja nur lokal gegen einen Teil dieser lebensfeindlichen Technik kämpfte – und gewann. Ob beziehungsweise inwiefern mafiöse Strukturen in der FDP bestehen, die besonders in akademischen, beziehungsweise hier: juristischen Institutionen wirksam werden, müsste mal gründlich untersucht werden. Ob diese 5-Prozent-Partei, die inzwischen wieder in der Bundesregierung sitzt, immer noch diesen Einfluss hat, kann zwar bezweifelt werden, ist aber sehr wahrscheinlich.

1Im Studienfach Sozialkunde bei Prof. Wolfgang Hilligen und dem Deutschen Institut für internationale pädagogische Forschung (DIPF) in Frankfurt am Main an einem Projekt der UNESCO über Social Studies in Ten Countries.

2Das AKW Würgassen war in Deutschland das erste kommerzielle, wurde nach mehreren Pannen nach relativ kurzer Laufzeit am 14. 4. 1997 stillgelegt und befindet sich auch als erstes im geplanten Rückbau, d.h. man sammelt Erfahrungen mit dem Abreißen eines kompletten Meilers. Ein überregionales Bündnis aus Gemeinden und Bürgerinitiativen verhinderte 2023, dort ein Sammellager für schwach- und mittelstark strahlenden Atommüll einzurichten.

3Stichwort Radikalenerlass

4Es wäre zu untersuchen, wie in einer Partei Verbündete gesucht und gefunden werden. Anfangs geht es nach meinen Erfahrungen meist um – zumindest vorgebliche – Inhalte, dann wird ein Beziehungs-Netzwerk geknüpft, aus dem sich dann auch eine Seilschaft entwickeln lässt. Netzwerk wie Seilschaft sind sodann dazu da, zunächst Funktionsstellen und später politische Ämter zu übernehmen.

5Dass ich das selbst später auch nicht machte, aber trotzdem einen Erfolg verbuchen konnte, hatte mit Insiderkenntnissen zu tun!

6https://taz.de/Gedenken-an-Anti-Atom-Aktivist/!5952548/

7Sein Film von 2012 mit vielen interessanten Interviews und Zusatz-Informationen: https://www.youtube.com/watch?v=wgfYlBaf95o

8Wie mir später Hans Papenfuß, ein damaliges Mitglied der „BIUF“ erzählte, soll es sich damals um einen Test seitens der Atomwirtschaft sowie der Politik gehandelt haben, wie denn die Bevölkerung auf ein solches Vorhaben reagiere. Das habe ihm später ein bekannter Fernseh-Journalist gesagt. Denn natürlich fehlen in der hiesigen Bergregion ebenso wie beim darauffolgenden Wackersdorf unerlässliche Voraussetzungen für eine solche Wiederaufarbeitungsanlage atomarer Brennstäbe, als da wären unerschöpfliche Wasser-Ressourcen, die für die Kühlung gebraucht würden. Die aber stehen ja an der Küste, wie dem französischen La Hague und dem britischen Sellafield ebenso zur Verfügung wie bei der japanischen WAA Rokkasho.

9Auch Hartmut Gründler hatte Verbündete, hat sich ja in Bürgerinitiativen engagiert, sie oft sogar selbst ins Leben gerufen. Nach meiner Erfahrung bilden sich BI’s entweder für oder gegen etwas. Sind sie für etwas, dann braucht es eine gleichmäßige, überzeugende Kontinuität, eine standfeste Struktur, die sich – wie etwa bei Greenpeace oder dem BUND – institutionalisieren kann. Sind sie gegen etwas, dann braucht man ein konkretes Ziel, einen konkreten Gegner für die Empörung, dessen Entscheidung beeinflusst werden soll. Und dann braucht es ein öffentlichkeitswirksames Auftreten, das nicht ignoriert, verniedlicht oder lächerlich gemacht werden kann. Mit unseren Demos von 5000 bis 12.000 bodenständigen Demonstranten schafften wir es bis in die Nachrichtensendungen des Fernsehens, sogar der Schweiz und Dänemarks.

10Als „Öffentlichkeitsarbeiter“ nutzte ich bei Presseerklärungen und und Interviews meine Vorteile, denn ich kannte unsere Gegner und deren Ideologie. Regierungschef Holger Börner stammte, ebenso wie mein oberster Dienstherr Kultusminister Hans Krollmann, aus Kassel. Letzterer war während meiner Kasseler Zeit sogar im selben SPD-Ortsverein wie ich. Und Börners Ministerin für Bundesangelegenheiten Vera Rüdiger, frühere Politik-Dozentin, hatte mich während meines Studiums in Gießen, wo ich zweimal maßgeblich an Studentenstreiks für eine Gesamtschullehrer-Ausbildung beteiligt war, kennen und respektieren gelernt.

11Es bildete sich rasch eine informelle, höchst effektive Infrastruktur, zu der auch ein guter Bekannter gehörte, der für die damalige Bundespost in Wiesbadener Regierungsbüros Telefonleitungen installierte…

12Hinzu kamen zugegebenermaßen auch die Auseinandersetzungen um die Startbahn 18 West sowie um den Vogelsberger Wasserraub der Frankfurter Industrie. In jenem Herbst machte sich die FDP auch auf Bundesebene unbeliebt, als ihr Vorsitzender Außenminister Genscher den SPD-Kanzler Helmut Schmidt im Stich ließ und mitsamt deren meisten Bundestagsabgeordneten zu Helmut Kohl (CDU) wechselte.

13In diesem Ehescheidungsverfahren gab es bis in die zweite Instanz hinein so eine Menge unglaublicher, von Anwälten, Behörden und Gerichten zugelassenen und auch gedeckten Betrügereien, die in der Häufung unglaublich und nicht zufällig sein können. Nach knapp 20 Jahren Prozessdauer habe ich im Sinne meines Bedürfnisses nach seelischer Hygiene von der diesbezüglichen, mühevollen Dokumentation abgesehen.

Die Grünen verbieten?

Kaum zu glauben – da ist jemand auf die Idee gekommen, für eine entsprechende Petition Unterschriften zu sammeln:

https://www.change.org/p/verbieten-sie-die-partei-b%C3%BCndnis-90-die-gr%C3%BCnen

Oder:

https://www.change.org/p/verbot-der-partei-b%C3%BCndnis-90-gr%C3%BCne-beantragen?original_footer_petition_id=37835588&algorithm=promoted&source_location=petition_footer&grid_position=3&pt=AVBldGl0aW9uAGlVPwIAAAAAZa5g3R6M%2BoA2ZjE4OTJhOA%3D%3D

Warum ich diese Petition mit meiner Unterschrift – und diesem Kommentar unterstütze:

In den 1980-ern war ich im Kreis Waldeck-Frankenberg etwa zwei Jahre lang Sprecher der Grünen, als die Partei noch ein Teil der Friedensbewegung war. Jetzt ist sie die Heimat der unerbittlichsten Kriegs-Waffen-Befürworter und -Hetzer in Bezug auf die Kriege in Ukraine und Gaza. Sodann arbeiten ihre politischen Berliner Akteure als Amateure wie z. B. Özdemir (Landwirt?), Baerbock (Diplomatin? eher Hochstaplerin!) oder Ricarda Lang als Vorsitzende (ahnungslos, z. B. in Rentenfrage) nicht für Bedürfnisse der Bevölkerung sondern für die der USA/NATO…

Außerdem: Matthäus 7
15Seht euch vor vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe. 16An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Kann man auch Trauben lesen von den Dornen oder Feigen von den Disteln? 17Also ein jeglicher guter Baum bringt gute Früchte; aber ein fauler Baum bringt arge Früchte.…

Der das sagte wurde von Pharisäern politisch verfolgt und von Pontius Pilatus zum Tode verurteilt. Vor 2000 Jahren.

Die neuen, bundesdeutschen Wölfe im Schafspelz, durch deren Handeln in der „Ampel-Regierung“ Deutschland wirtschaftlich und wegen des fortgesetzten, spektakulär laienhaften Handelns weltweit enorm beschädigt wird und auch die AfD ständig Zulauf hat, haben ja mächtige Verbündete und Unterstützer im sogenannten Wertewesten, der bekanntlich in NATO und USA beheimatet ist. Da werden sich bestimmt einflussreiche Helfer mit guten Beziehungen und dem nötigen Kleingeld finden, die ein eventuelles Verbotsverfahren zu verhindern wissen.

Zwar kennen wir Kurt Tucholskys Feststellung „Wenn Wahlen etwas änderten, wären sie längst verboten.“ Aber manchmal geschehen auch in einer informierten, demokratischen Öffentlichkeit bei Wahlen unerwartete Wunder. Dann haben jene Helfer gegenüber dem informierten (!) Wahlvolk keine Chance.

Wer es sich also überlegt, in sich geht, dann eventuell die Petition mit der Unterschrift unterstützt, würde sich an einem deutlichen Warnschuss beteiligen. Bis zur Wahl in 2025 kann noch viel geschehen. Vielleicht zerbröselt ja vorher die Ampel ohnehin.

Alltag – CO2-Bilanz

Zugegeben: nix Besonderes. Einkaufen mit einem Verbrenner-Auto, inzwischen 20 Jahre alt, hat noch zwei Jahre TÜV, ist derzeit knapp 90.000 Kilometer gefahren. Das wäre ja eigentlich nachhaltig. Strecke etwa 850 Meter, eine Ampel. Könnte ich auch zu Fuß gehen, wenn das Zeug auf dem Heimweg nicht so schwer wäre. Bin eben nicht mehr der Jüngste.

Sollte ich statt des Verbrenners wegen der Umwelt und des Klimas vielleicht besser E-Auto fahren? Wäre denn dann die Klima-Bilanz meines Einkaufs besser? So ein Motor besteht aus viel Kupfer und einer monströsen Batterie. Wenn die Gewinnung der dafür nötigen Rohstoffe und die elektrische Energie für Produktion und Fahrten berücksichtigt würde – wäre dann die CO2-Bilanz des Einkaufs, also mein „ökologischer Fußabdruck“ besser?

Überhaupt müsste doch, wenn es ernst gemeint wäre, das Klima nicht nur regional, sondern weltweit betrachtet und geschützt werden. Schließlich kennen Wind und Wolken ja keine Landesgrenzen! Und was ist da mein bisschen Autoabgas gegen das der Panzer, Raketen und Bomber in der Ukraine und in Nahost, die eben weltweit verbreitet werden? Bin ich nun ein Umweltsünder – und was sind unter diesem Kriterium die Kriegsparteien, abgesehen davon, dass von ihnen Menschen abgeschlachtet werden?

Die Entfernung

Auf manche frühen Fragen gibt es ein ganzes Leben lang keine richtige Antwort. So wie diese: „Was hast Du denn für eine Beziehung zu Deiner Mutter?“

Mein Gott! Da war ich nun in meinem jugendlichen Leichtsinn endlich mit Dagmar allein. Was sollte ich ihr antworten?

Ende Januar wehte ein milder Wind, so dass wir keine Handschuhe mitgenommen hatten. Unsere Jacken konnten wir offen lassen, ihr langes blondes Haar wurde leicht um das rundliche Gesicht gezaust. Mein Puls war sofort wieder normal.

Verlegen wanderte mein Blick über die sanften Rundungen der Hügel und Berge, die noch grauen Waldränder und bräunlichen Wiesen, die verstreuten Schneereste in den kleinen Mulden und an den lang gezogenen Feldrainen, hinunter ins Tal mit dem Dorf Imshausen, dann wieder zurück zu ihr.

Ich war echt stolz, dieses im vorigen Sommer angekommene Mädchen mit der aufregenden Figur an jenem Sonntagnachmittag für den Spaziergang zu zweit überredet zu haben. Richtig verwegen kam ich mir vor, denn die anderen saßen alle im Haus und probten oder betrieben sonst irgendwelche Vorbereitungen für das Faschingstreiben in der nächsten Woche. Meine ganze Leichtigkeit und Überschwänglichkeit war plötzlich weg. So eine schwere Frage. Ich hatte mir doch noch nie darüber Gedanken gemacht!

Klar, die Frage war jetzt eigentlich dran. Hatte Dagmar mir doch eben erzählt, dass sie deswegen in das Kinderhaus gekommen war, weil ihre Mutter sie allein versorgen musste und sie selbst ihre freie Zeit zu hemmungslosen Herumtreibereien genutzt hatte. Mit ihren fünfzehn Jahren konnte sie schon von einem abenteuerlichen Leben in einer großen Stadt berichten. Aber sie sehnte sich wieder zu ihrer Mutter. Und ich? Was sollte ich antworten?

Ein-, zweimal besuchte mich Mutti im Jahr, seit ich mit zehn hier war. Ab und zu ein Brief, ein Päckchen, wofür ich mich mit einem Brief bedanken musste. Und nun war ich schon sechzehn. Mein zweites Lehrjahr als Schreiner hatte ich bald geschafft, ich arbeitete schon wie ein Mann und fühlte mich genauso. Was ging mich meine Mutter an? Was hatte ich mit ihr zu tun?

Vielleicht waren seit der Frage drei oder vier Herzschläge vergangen. Sie blieb stehen und sah mir in die Augen. Eher grün als blau waren sie, unausweichlich prüfend. Ihre Lippen, von denen ich heute sagen kann, dass sie „sinnlich“, aber nicht unbedingt „voll“ waren, verzogen sich zu einem Lächeln aus Ermutigung und Nachsicht. Als sie schließlich ihre rechte Augenbraue etwas hob und leicht spöttisch die Mundwinkel verzog, entschloss ich mich endlich zu einer Antwort, der ich selbst mit einiger Verwunderung zuhörte: „Deutschland ist groß und meine Mutter ist weit.“

Das muss ziemlich pathetisch geklungen haben, und bestimmt habe ich den Satz mit einer recht großspurigen Armbewegung unterstrichen. Woher kam mir diese Antwort? Einige Wochen zuvor hatte Tante Vera, wie wir die Hausherrin des Kinderhauses Imshausen nannten, beim Mittagessen nach und nach eine Erzählung aus dem Russland des Ersten Weltkrieges vorgelesen, in dem jemand die Meinung der einfachen Leute über ihr Verhältnis zum Zaren mit den Worten gekennzeichnet hatte: „Russland ist groß und Väterchen Zar ist weit.“ Das schien mir eine treffende Beschreibung für meine Beziehung zur Mutter zu sein.

„Das hört sich aber sehr unfreundlich an. Sie ist doch immerhin Deine Mutter. Wer so über seine Mutter redet, zeigt einen schlechten Charakter. Ich möchte keinen Freund, der einen schlechten Charakter hat.“

Sie muss eine ziemlich genaue Vorstellung davon gehabt haben, was ein guter oder ein schlechter Charakter ist und wie ein Sohn zu seiner Mutter zu stehen hat. Offensichtlich passte das, was ich gerade über meine Beziehung zu meiner Mutter gesagt hatte, nicht zu ihrer Vorstellung von einem netten Menschen. Jedenfalls haben wir an jenem Nachmittag eine Wette abgeschlossen, ob es mir gelingen würde, im Laufe der nächsten fünf Jahre meinen Charakter zu bessern.

Bestimmt habe ich diese Wette vor allem deswegen angeboten, um einen vertretbaren Grund zu haben, sie dann wieder zu sehen. Damit wir dann auch beide frei hätten, haben wir uns für den 1. Mai 1962 verabredet, der ja bestimmt ein Feiertag ist. Wir wussten ja beide, dass sich unsere Wege ziemlich bald wieder trennen würden. Wo sollten wir uns also in fünf Jahren treffen, um die Wette zu überprüfen?

Nun, Dagmar war aus Mühlheim am Main, in der Nähe Frankfurts, wo sie sich auskannte, und schlug deswegen vor, wir sollten uns dann nachmittags um drei in Frankfurt am Café Kranzler treffen.

Es wurde doch rasch ziemlich kalt. Ich jedenfalls hatte noch keine großartigen Kenntnisse im Schmusen, obwohl Dagmar eine rücksichtsvolle Lehrerin war. Küssen war für mich damals noch das Größte. Aber dabei habe ich mich bestimmt noch sehr ungeschickt angestellt. Irgendwie war mir diese feuchte Schmatzerei unangenehm und aufregend zugleich.

Als wir zum Haus zurückgekehrt waren und ich auf meinem Zimmer die Wette mit Rotstift in meinem Taschenkalender „heijo“ eingetragen hatte, schrieb sie mit Füller hinter „Café Kranzler“: „falls es nicht mehr besteht, Café Rumpelmayer.“ Ihre Handschrift war viel schöner als meine. Dies ist mein Kalendereintrag drei Wochen danach:

Natürlich nutzten wir stets jede Gelegenheit uns zu treffen. Täglich. Wir wurden immer verwegener, aber auch leichtsinniger. Wie kann man so viel junge Vertrautheit noch steigern? Es wurde ja noch ziemlich früh dunkel und nach dem Abendessen gab es immer einen zeitlichen Spielraum. Um halb sieben in der Halle mit allen Kindern, die älter als zehn Jahre waren, und den dazugehörenden Betreuern, vielleicht fünfundzwanzig Personen. Wir beide saßen natürlich nicht nebeneinander, aber wir hatten uns so gesetzt, dass sich unsere Blicke immer wieder trafen. Von einigen Anwesenden wurden wir wieder mal auch in dem allgemeinen Palaver fortwährend kritisch beobachtet. Jeder schien zu wissen, dass wir ineinander verknallt waren.

Eigentlich passten wir ja in keine der Kindergruppen mehr hinein. Wegen meiner Lehre im sieben Kilometer entfernten Bebra war ich noch nicht zu meiner Mutter gekommen, die zusammen mit meinem Stiefvater bei einer Handpuppenbühne gespielt hatte und darum bis vor ein paar Monaten dauernd in ganz Westdeutschland unterwegs war.

Peter, der etwa zehn Jahre älter war als ich und immer viel organisierte, verkündete nach dem Essen, dass alle schulpflichtigen Kinder um halb acht auf ihre Zimmer und um acht ins Bett zu gehen hätten. „Ältere können länger aufbleiben, wenn sie an der Messe teilnehmen wollen.“ Die einzigen, die dafür in Frage kamen, waren Dagmar und ich. Wir hatten ja noch so viel miteinander zu reden. Die lutherische Messe, die hier donnerstags und sonntags gehalten wurde, begann um acht, heutzutage: um 20 Uhr. Also hätten wir noch eine Stunde für uns. Wir halfen alle beim Abräumen und trugen Geschirr oder Besteck in die Küche. Auf dem Flur begegneten wir uns wie unabsichtlich. Dagmar sah mir fragend in die Augen und ich raunte im Vorbeigehen nur: „Beeil‘ Dich! In zehn Minuten.“

Natürlich hatten wir im nahen Park einen festen Treffpunkt, der auch heute noch zu dem Haus gehört, das im Frühklassizismus als adliger Landsitz mit Gutshof und mehreren Wirtschaftsgebäuden gebaut worden war.

Ich ging schnell zu Peter und sagte ihm, dass ich an der Messe teilnehmen wolle. Er hob die buschigen Augenbrauen und erwiderte: „Sei aber ja pünktlich, sonst hat das Konsequenzen!“

Was können das schon für Konsequenzen sein, dachte ich, stürmte auf mein Zimmer im Thinghaus, wie das eineinhalbgeschossige Wohnhaus der zehn- bis 14-jährigen Jungen genannt wurde, zog mir schnell warme Sachen über. Da es damals kaum noch Thing-Jungen gab, schlief ich hier alleine, wo sonst acht untergebracht waren. Damit mich keiner beobachten konnte, rannte ich hinter dem Thing-Häuschen den Weg zur Straße und von dort in den Park, unter den uralten Nussbäumen durch, sprang mit einem Satz über den Bach, lief an den Büschen entlang zur Rotbuche. Wer sie heute in dem Park suchen will, findet sie nicht, weil sie inzwischen altersschwach abgehauen wurde.

Dagmar war noch nicht da. Völlig außer Atem war ich und deswegen ganz froh, etwas verschnaufen zu können. Der riesige Baum streckte mir seine jetzt blattlosen Äste wie immer in Reichweite herunter. Wie oft hatte ich mit den anderen Thing-Jungen, von denen jetzt keiner mehr da war, auf diesen unendlich vielen Ästen Kriegen gespielt, hatte dabei meine Ängste überwinden und die Schwindelfreiheit gelernt! Die Mutigsten unter uns trauten sich bis in die oberste Spitze. Waren das zwanzig oder fünfundzwanzig Meter? Abgestürzt ist nie einer. Wenn ich mal abrutschte, fing mich der nächste Ast darunter auf. Er federte etwas, einige Rippen spürte ich auf dann sehr schmerzhaft, aber ich hatte noch Zeit genug, mich an ihm festzuhalten. Oder hielt er mich fest? Mein Vertrauen in den Baum war fast grenzenlos, und auch jetzt fühlte ich mich wieder einmal unter ihm geborgen, obwohl der kalte Sternenhimmel und einige blasse, vom Mond beschienene Wolken durch die kahlen Äste zu sehen waren. Ein paar Meter weiter bergauf stand der bestimmt genauso hohe Birnbaum, dessen oberste Früchte ich dank meiner Schwindelfreiheit oftmals als einziger pflücken und genießen konnte. So herzhaft schmeckende Birnen habe ich seitdem nicht mehr gegessen.

Nach einer kleinen Unendlichkeit kam sie. Wie viele unwiederbringliche Minuten waren nutzlos vergangen? Zuerst ein verschwommener Schatten, dann immer deutlicher eilte sie mir in die Arme.

Es sollte sich noch an diesem Märzabend herausstellen, dass dies die letzte halbe Stunde für uns beide war. Fünf Jahre später, am ersten Mai vor dem Café Kranzler, waren wir zwangsläufig keine Verliebten mehr, bestenfalls einstige Freunde füreinander und absolvierten verwundert eine nostalgische, selbstauferlegte Verpflichtung.

Dagmar wollte am 1. Mai 1962 nicht fotografiert werden, aber etwas ungeübt knipste ich sie aus der Hüfte.

Das Tolle war ja, dass wir bis dahin regelmäßig in Brief-Kontakt geblieben waren. Inzwischen lebte ich zunächst bei meiner Mutter in Idar-Oberstein, machte meine Gesellenprüfung, zog kurz nach der Taufe meiner Schwester nach Marburg wo ich erst als Schreiner arbeitete, hatte im Januar meinen Führerschein gemacht und besuchte gerade einen VHS-Abendkurs, um das Externen-Abitur zu machen. Anfangs wirkte erst mal mein Freund Richard, der nach meiner Entfernung aus Imshausen noch über ein Jahr länger dort war, wie ein geheimer Relais-Briefkasten, um den von Frau Vera verbotenen Briefwechsel zu bewerkstelligen, bis auch Dagmar weggezogen war und mir ihre Anschrift schreiben konnte. Natürlich war sie mittlerweile – im Gegensatz zu mir – in einer festen Beziehung mit Heiratsperspektive. Unsere damalige Wette, der zufolge ich in fünf Jahren meinen Charakter und meine Beziehung zur Mutter bessern könnte, war ja illusorisch. Wie hätte ich eine solche Besserung beweisen können? Die war beidseitig lebenslang höchstens bemüht. Leider.

Für 2024: Ein Frohes Neues!

Und viel Glück …

„Gute Party heute!“ schrieb mir mein jüngster Bruder heute auf WhatsApp. Nun bin ich ziemlich genau 20 Jahre älter als er und also aus dem Alter raus, in dem man noch verpflichtet ist, eine Silvester-Party zu veranstalten. Irgendwie ist es ja auch – wenn wir ehrlich sind – im Grunde stets dasselbe Spiel. Hatte doch einst die feudale Obrigkeit den ersten Tag des neuen Jahres angeblich deswegen arbeitsfrei gegeben, damit das gemeine Volk seinen Rausch vom Vortag ausschlafen und sich die neue Jahreszahl dann besser merken kann.

Horoskope haben wieder Hochkonjunktur. Dazu meinte schon Erich Kästner:

„Wird’s besser, wird’s schlechter?“ fragen wir jährlich. Sei’n wir doch ehrlich: Leben ist immer lebensgefährlich!

Nicht nur der private Blick in die Zukunft sucht im Nebel. Auch der politische. Wieder einmal versuchte sich am Silvester-Abend ein Bundeskanzler in seiner Silvesteransprache mit Erfolgen zu profilieren – und verfängt sich dabei in einer Schlinge seiner eigenen Propagandaabteilung wenn er behauptet, im vergangen Jahr hätten die Deutschen die von Russland verursachte Gaskrise gut überstanden – von Russland verursacht? Allein so eine Aussage kennzeichnet diesen Kanzler des Gedächtnisverlusts!

Wer hat denn direkt nach Beginn des russischen Einmarschs in die Ukraine die Sanktionen gegen Gasprom verhängt und wer klaglos die Sprengung der Gas-Pipelines in der Ostsee hingenommen? Kein Wunder, dass so jemand vergeblich um Glaubwürdigkeit kämpft! Sicher auch im neuen Jahr.

Na, dann prost allerseits!

Frohes Fest, ihr interessierten Mitmenschen!

Wenn auch etwas verspätet: Heiligabend geschafft! Auch das Festessen? Jedes Jahr erneut Bescherung. An welchen Heiligabend erinnert man sich so als erstem? Die schönste Freude ist die Vorfreude, sagt der Volksmund. Gab es die gewünschten Geschenke? Überraschungen? „Haben sich die Beschenkten auch wirklich über meine Gaben gefreut?“ ist bei der ganzen Schauspielerei ein nagender Zweifel. Geht es euch vielleicht manchmal auch so? Da werden im Leben wichtige Vorhaben oft deswegen nicht verwirklicht, weil immer wieder etwas dazwischen kommt, gerade vor Weihnachten!

Wer sich jetzt fragt, wie ich denn nun wohl die Kurve kriege, von dem allgemeinen Geschwafel weg und zu einer Erzählung zu kommen, den oder die will ich nicht enttäuschen. (Nebenbei: Das soeben genutzte „Gendern“ werde ich nicht wiederholen! Versprochen. Denn ich will mir sprachlich doch nicht selber dauernd ein Bein stellen, auch wenn diese (Un-)Sitte inzwischen sogar für akademische Arbeiten vorgeschrieben sein soll.) Denn Geschichten erzählen gehört doch zu Weihnachten – wie die Weihnachtsgeschichte! Eines meiner frühesten Vorhaben war, selber Geschichten zu erzählen und Bücher zu schreiben, zum Beispiel auch mal eine Autobiografie, für die schon einige Lebensjahre ins Land gegangen sein müssten, was ja inzwischen auch der Fall ist.

Seit Langem haben sich sozusagen mehrere textliche Mosaikstücke angesammelt, wofür hier ein Beispiel aus jenem schwierigen Alter folgt, als ich gerade 13 war, das jedoch nicht unbedingt mit Weihnachten zu tun hat:

Etwas Philosophie im Apfelbaum

Etwa zwei Meter hoch saß ich mit meinen 13 Jahren und einem Meter zweiundsiebzig Länge über dem Erdboden und philosophierte. Ja ja, damals wusste ich noch nichts von Michel de Montaignes Bemerkung, dass philosophieren bedeute, sterben zu lernen. Aber nun: Wozu noch in die Schule gehen, wo man von diesen verknöcherten Paukern doch kaum noch etwas Gescheites lernen konnte? Klar, ich wollte schon Schreiner werden, mit Holz, das immer so gut riecht, etwas gestalten und damit richtig Geld verdienen. Aber Schreiben würde mir viel mehr Spaß machen, obwohl alle sagen, das sei eine brotlose Kunst. Am besten verdient man erst genug Geld und kann dann in Ruhe schreiben.

Ja, so werde ich das machen, dachte ich über diesen unrealistischen Plan und biss, obwohl es mir wieder das Zahnfleisch zusammenzog, in den eigentlich noch zu grünen und darum ziemlich sauren Apfel. Wenn man schon mal morgens den Bus verpasst und deswegen mehr als sieben Kilometer zur Schule laufen soll, dann kommt man sowieso erst zur großen Pause an.

Die Sonne schien schon ganz warm und hier oben auf dem dicken Ast mit dem Stamm als Rückenlehne war die Aussicht auf die sich durch das kleine Tal schlängelnde Straße hervorragend. Kam endlich mal ein Auto da oben um die Kurve, konnte ich rechtzeitig runter springen und mit dem Arm winken um es anzuhalten. Mit einem Laster würde ich auch mitfahren. Einmal hatte mich ein Motorradfahrer auf seiner BMW 500 mitgenommen. Der fuhr so schnell durch die Kurven, dass mir ganz flau im Magen wurde.

Goethe war wohl ein toller Mann, was der alles geschrieben hat. Zu Weihnachten vor fünf Jahren hatte ich von Mutti schon ein ziemlich dickes Buch über Goethe bekommen, „Der geheimde Rat und die Kinder“ hieß es. Es war ein verwunderliches Deutsch, das zu lesen mir schwer fiel und einfach keinen Spaß machte. Aber den Zauberlehrling, den wir gerade in Deutsch durchnahmen, fand ich prima.

Schreiben kann ich doch auch. Immerzu muss ich ja Briefe schreiben. Seitdem ich vor sieben Jahren in die Schule kam. Besonders als ich endlich mal bei Mutti lebte.

„Wo ist Vati?“ hatte ich sie damals vor sechs Jahren gefragt, als ich eines Tages von ihm einen Brief bekam. „In München“ antwortete sie. Ja klar, das hatte ich selber auf dem Briefumschlag gelesen.

„Und warum bist Du nicht mit ihm verheiratet?“ wollte ich von ihr wissen. In der Schule und damals in dem katholischen Kinderheim von Unterdeufstetten hatte ich einige Jungen kennengelernt, die manchmal entweder nichts von ihren Eltern wussten, oder nur noch ihre Mutter hatten oder deren Mutter mit einem Onkel zusammenlebte, weil sie nicht wusste, ob ihr Mann vielleicht noch aus dem Krieg oder aus der Gefangenschaft heimkam.

„Ich musste mich von ihm scheiden lassen.“ Dass sich verheiratete Eltern auch scheiden lassen konnten, war mir damals neu. Darüber musste ich erst einmal nachdenken. Bei den Klassen- und Spielkameraden erkundigte ich mich beiläufig, weshalb sich Eltern scheiden ließen. Die wussten das anscheinend auch nicht immer so genau, meistens hatte es zwischen deren Alten, wie sie die dann nannten, ziemlich viel Ärger gegeben, sodass dann Mutter oder Vater die Scheidung wollte. Von müssen war aber nie die Rede. Das ließ mir keine Ruhe.

Aber da kam gerade ein VW, der Typ wurde später Käfer genannt, um die Kurve! Runter springen, den im Gras liegenden Ranzen schnappen und am Straßenrand mit ausgestrecktem Arm nicht zu schnell winken! Hielt er? Tatsächlich bremste er und stoppte. Die Mittelschule in Bebra musste heute doch nicht auf mich verzichten.

Erweiterte biografische Bildbetrachtungen

Vorbemerkungen

I

Über viele Sachen machen wir uns im Trubel des Alltags kein großes Kopfzerbrechen. Als Kind muss man die Unmenge an täglich Neuem irgendwie einordnen und ist dann später als Erwachsener meistens froh, gegenüber den beruflichen und familiären Ansprüchen einigermaßen gut über die Runden zu kommen. Störende Gedanken müssen dabei öfters mal verdrängt oder zumindest zurückgestellt werden. Wenn diese Gedanken dann auch noch mit unerfreulichen Erinnerungen verbunden sind, dauert die Zurückstellung möglichst lange. Bis es genügend Zeit gibt, sich um die dahinter stehende Frage zu kümmern: Warum?

Wenn ein heranwachsender Mensch beide Eltern hat, aber kein Elternhaus, kein Familienleben kennenlernt, dann gibt es dafür sicher Gründe. Welche Gründe aber führten dazu, dass mir gegenüber von beiden Seiten konsequent darüber geschwiegen wurde und mir vieles entweder nur zufällig oder aber erst nach dem Tod beider Eltern bekannt wurde?

II

In den „Essais“ von Michel de Montaigne fand ich eine Bemerkung, die darauf hinausläuft, dass er das Aufschreiben seiner eigenen Überlegungen und Erkenntnisse sinngemäß damit begründet, die Welt habe von ihm bisher so wenig Notiz genommen und er wolle ihr nun einiges mitteilen, was er für bedeutsam halte.* Außerdem sollte man nach seiner Auffassung nur davon etwas schreiben, worin man sich gut auskennt. Deswegen schreibe er von sich, und er „spreche als einer, der fragt und nicht weiß“, der nicht lehre sondern erzähle.**

Auch mir kam, schon in jungen Jahren, der Gedanke, vor dem Aufschreiben müsse erst möglichst viel Kenntnis und Erfahrung vorhanden sein. Nun ist es so weit, und die verfügbare Zeitspanne für das Aufschreiben wird immer kürzer. Bestimmt gibt es seltsamere und ungewöhnlichere, ja viel tragischere Schicksale. Aber jedes ist auch ein Stück Zeitgeschichte, und wahrscheinlich hängt ja doch alles mit allem zusammen. Zum Beispiel das Schweigen der sonst so beredsamen Mutter über eine von ihr verursachte entscheidende Wendung im Leben ihres kleinen Sohnes mit der Schlacht um Kreta 1944, oder auch das Schweigen des nicht nur von Berufs wegen wortgewandten Vaters über die seiner Meinung nach wirklichen Gründe für die Scheidung von der Mutter mit seinen schauspielerischen Fähigkeiten.

Vorsichtige Antworten oder Erklärungen gibt es nun nur noch aus hinterlassenen Dokumenten, bei denen unsicher ist, welche Wirklichkeit sie widerspiegeln. Dazu gehören natürlich auch Fotos, die manchmal datiert sind, sowie Briefe, die wegen eines ganz anderen Zweckes aufgehoben wurden. Und es gibt noch Erinnerungen an Szenen aus der Kindheit.

Die junge Mimin

Dies Foto fand ich in einem Album meiner Mutter, das mir nach ihrem Tod zukam. Es erscheint mir deswegen bedeutsam, weil es einen kleinen Einblick in jene Zeit ihres Lebens gewährt, von der sie mir höchst selten, und dann auch nur in Andeutungen etwas sagte, manchmal wie aus Versehen.

Auf der Rückseite ergibt sich aus dem Stempel eines Fotografen, dass die Aufnahme in Koblenz gemacht wurde. Hier begann Mutters Schauspielerleben.

Damals, 1940, war Eleonore Elisabeth Theresia Noll siebzehn Jahre alt und hatte – wie sie mir gegenüber einmal bemerkte: gegen den Willen der Eltern – gerade ihr erstes Engagement beim Westmark Landestheater Koblenz-Neuwied, das auch Gastspiele in anderen Städten gab.1 In Trier lernte sie dabei nach ihren späteren Angaben den gerade doppelt so alten, allerdings verheirateten Schauspieler Paul Hans Zimmermann kennen, meinen Vater, der – wie sie später, im Mai 19492, gegenüber dem Jugendamt schriftlich erwähnte –mit ihr ein Verhältnis begann, um sie an sich zu binden. (Ob sie sich allerdings wirklich nur wie ein Objekt in diesem Verhältnis empfand, darf in Anbetracht ihres Zerwürfnisses mit dem Vater bezweifelt werden.)

Der Gesichtsausdruck ist für eine junge Frau dieses Alters ausgesprochen nachdenklich, was überhaupt nicht zu einer Jugendlichen passt und vermutlich auch damit zu tun haben dürfte, dass dieses Studio-Foto für mögliche Bewerbungen vorgesehen war. Die Kleidung ist sehr dunkel, vielleicht tatsächlich sogar schwarz, sodass keine Einzelheiten erkennbar sind. Die Frisur der ziemlich langen, gewellten Haare verstärkt durch den Mittelscheitel die Ernsthaftigkeit.

Der ambitionierte Mime

Obwohl mir dies gerahmte und verglaste Ölgemälde im Format 60 mal 50 Zentimeter erst einige Zeit nach Vaters Tod3 zukam, sind der zeitlichen Abfolge wegen an dieser Stelle einige Überlegungen angebracht. Als nämlich seine Witwe Sophie, die fünfte und letzte Ehefrau, die mit ihm dreiundzwanzig Jahre lang glücklich verheiratet war, in eine kleinere Wohnung umziehen wollte, übergab sie es mir mit der Bemerkung, das Bild habe ein mit Vater befreundeter Maler angefertigt und ihm das Bild verehrt, weil er von ihm, dem damals etwa dreißigjährigen Schauspieler4, so begeistert gewesen sei.

Nun ist ein Ölporträt bekanntlich keine Momentaufnahme, wie etwa eine Photographie. Dafür muss der Porträtierte sicher mehrere Sitzungen geduldig mitmachen, in denen der Maler seine Wahrnehmungen umsetzt. So scheint Vater in seinem besten Mannesalter mit hohlen Wangen etwas ausgehungert zu sein. Der Blick geht versonnen oder nachdenklich leicht links am Maler und somit am Betrachter vorbei, und der entspannte Mund lässt keine Gefühlsregung erkennen.

Sodann stellt sich die Frage, wie das Bild wohl mehrere Bombardements, zig Umzüge sowohl vor und während wie auch nach dem Krieg so wohlbehalten überstehen konnte. Der Rahmen ist eine Sonderanfertigung aus hellen, mattierten Eichenholz-Leisten, wie es etwa in den neunzehnhundertsiebziger Jahren auch für Möbel in Westdeutschland Mode war. Vater lebte wahrscheinlich bereits mit Sophie zusammen, die er 1970 direkt nach seiner Verrentung und dem darauffolgenden Umzug von Ostberlin nach München dort kennengelernt hatte und 1972 heiratete. Da Sophies Mobiliar ebenfalls aus hellem Eichenholz bestand, ist die Annahme berechtigt, dass er in München dies Bild dazu passend rahmen ließ, es also mit seinen „Siebensachen“ aus der DDR mitgebracht hatte.

Diese leider undatierte Studio-Aufnahme scheint nach seinem Geschmack gewesen zu sein5: Der hochkonzentrierte Blick wird im Profil besonders deutlich, der leicht geöffnete Mund deutet das Sprechen eines Textes an, die seitliche Beleuchtung hebt auch hier die hageren Gesichtsfalten hervor, und die streng nach hinten gekämmten Haare enden über dem Kragen glatt geschnitten, als sei er gerade beim Friseur gewesen.

Die junge Mutter

Auf der Rückseite steht „Juni 1941, Pillnitz“ in Sütterlinschrift, wie Vaters Eltern mir noch Briefe geschrieben haben.

Etwa 15 Kilometer östlich des Dresdner Stadtzentrums, direkt an der Elbe, liegt das Schloss Pillnitz mit dem bezaubernden Park. Beides gilt als die bedeutendste in chinesischem Stil gebaute Schlossanlage Europas und ist seit jeher für Dresdener ein beliebtes Ausflugsziel. Also hatten die Eltern von meinem Geburtsort Göttingen aus, wo ja Vater noch ein Engagement hatte, in Dresden seine Eltern besucht und einen Ausflug dorthin gemacht.

Mutter wird einen Monat später ihr 18. Lebensjahr vollenden. Durch die Schwangerschaft und Geburt ihres nun gerade fünf Monate alten Sohnes ist ihr Traum von der Schauspielkarriere erst mal zuende. Sie trägt sozusagen ihren „Karriereknick“. Vom Sonnenschein beleuchtet steht sie scheinbar an einem Waldrand, da im Hintergrund Tannen stehen. Es wird der Schlosspark gewesen sein.

Sie hat die in der Mitte gescheitelten Haare derart nach hinten gebunden, dass die Ohren nur zur Hälfte bedeckt sind. Der leicht geöffnete Mund ist rechts ein wenig angehoben, während die etwas verschatteten Augen den Fotografen anblicken. Man könnte aus dem Schnappschuss schließen, dass sie diesen gerade fragt, wie lange es denn noch dauere, so als wolle sie mit dem etwas gequält wirkenden Lächeln gute Mine zum unerwünschten Spiel machen.

Denn vor sich hält sie ihr Baby so dem Fotografen entgegen, dass es direkt auf die Kamera blickt. Der rechte Ärmel der Jacke, einem Herrenjackett nicht unähnlich, ist etwas in Richtung Ellenbogen verrutscht und lässt die Anspannung der für das Andrücken des Kindes gebrauchten Muskeln und Sehnen erkennen. Die vom – für diese Jahreszeit sehr gut eingepackten – Kind verdeckte Linke stützt das Baby unter dem Windelpaket. Am unteren Bildrand ist links der Handgriff des Kinderwagens, rechts unten Kopf- und Schulterschatten des Fotografen erkennbar.

Dabei handelt es sich mit Sicherheit um den damals noch nicht von seiner ersten Frau geschiedenen Kindesvater Paul Hans Zimmermann6, der als Schauspieler noch nicht zur Wehrmacht eingezogen worden war.

Wie sehr sich die damalige Situation der Mutter in diesem Bild spiegelt, wird in schon auf der ersten Seite ihrer vierseitigen Selbstauskunft gegenüber dem Jugendamt deutlich, die sie im Mai 1949 selbst verfasste:

Als unglaubwürdig bezeichnete Tante Maria, die Frau von Vaters jüngerem Bruder Rudolf, viel später, als ich ihr das „Pamphlet“ nach dem Tod meiner Mutter zu lesen gab, (siehe weiter unten!) die hier und auf weiteren drei Seiten geschilderten herrischen Verhaltensweisen meines Vaters. Er sei ein liebenswürdiger Mensch gewesen. Allerdings war er auch durch und durch Schauspieler, so wie beispielsweise Förster, Architekten oder Lehrer ihren Beruf auch nach Feierabend leben.

Die abwesende Mutter

Dresden 1944/45

„Elbwiesen August 1944“ ist auf der Rückseite dieses kleinen Idylls vermerkt. Ich sitze als Dreijähriger in Lederhose vorne und bewundere meine Cousine Theresa, die sich kapriziös geriert. Rechts sitzt Oma Zimmermann mit Cousine Christa und links vermutlich eine Schwester von Tante Maria, der Mutter der beiden Mädchen, die wahrscheinlich auch das Foto geschossen hat. Es handelt sich also um ein Beweisstück dafür, dass ich zu dieser Zeit in Dresden war – ohne meine Mutter, über deren damalige Aktivitäten in dem Brief der Großmutter7 einige Hinweise zu lesen sind.

Das Foto klebte vorne in meinem allerersten Album, das mir von Opa und Oma Zimmermann 1954 zu meinem 15. Geburtstag (mein Vater würde sagen, es sei der 16. gewesen, weil ich ja bei meinem ersten null Jahre alt war) aus Dresden geschickt wurde. Damals lebte ich in dem Kinderhaus Imshausen. Davon ist chronologisch später zu berichten.

Die drei nachfolgenden Briefe aus Dresden haben vor allem deswegen die vielen stürmischen Zeiten überstanden, weil sie von meinem Vater als Beweisstücke gegenüber meiner Mutter für ein von ihm schon damals ins Auge gefasstes Scheidungsverfahren aufgehoben wurden. Seine fünfte Ehefrau Sophie sollte mir die Scheidungsakte erst dann übergeben, wenn ich sie darum bäte. Dies wurde aktuell, als mir nach dem Tod meiner Mutter von ihrem zweiten Mann die Herausgabe ihres Exemplars verweigert wurde.

Diese Zeugnisse aus dem damaligen Alltag finde ich allerdings nicht nur wegen der Hinweise auf Verhaltensweisen der Mutter sondern auch deswegen bemerkenswert, weil sie Beobachtungen aus meiner frühen Kindheit und außerdem Hinweise auf das allgegenwärtige NS-Netzwerk enthalten.

Brief der Großmutter

Dr., d. 19.12.44

Grüß Gott!

Mein lieber Hans!

Wir danken dir für deine liebe Post vom 5. 12. kam zuerst an diese (?) dann v. 22. Nov. u. gestern 28. Nov. Es tut uns von Herzen leid, daß Du mit Lore8 nichts hast, aber sie ist jetzt so verbohrt in ihre Sache u. geht durch dick und dünn wie man zu sagen pflegt. der arme Manuel hat (?) wenig Liebe zu erwarten wo sie ihn so von sich geben will ich hätte doch gleich losheulen können als ich gestern Deinen Brief las, daß sie Frau Doktor Wimmers (??) geschrieben hat, um ihn unterzubringen – das giebt es aber nicht lieber Hans du und der liebe Manuel sind doch so lange wir leben bei uns zuhause, ja sorge dich nur nicht, wir nehmen Manuel jederzeit zu uns, wo du Soldat bist sollte sich Lore doch schämen dir so weit weg von zuhause noch solchen Kummer zu bereiten. Maria bemüht sich so um ein paar Zimmer zu bekommen und hat schon ein Gesuch um Genehmigung laufen. Sie will doch wieder ein eigenes Heim9 aufbauen für Rudi und die Kinder u. Platz ist in unsere Schlafstube noch ein Bett zu stellen u. eine Bettstelle [Rückseite] haben wir noch auf dem Boden stehen, also mein lieber Hans, veranlasse nun, daß Manuel nach Dresden kommt, da hast du dann wieder Ruhe u. weißt, wo dein Kind sich befindet, wenn es nicht anders geht wende dich doch an die N.S.V.10 u. dann schreibe doch an den Kindergarten wo Manuel hingeht. Brief mit Porto fertig geschrieben, (…) bestimmt Nachricht von Manuel, wenn Lore dir nicht schreibt mußt du dir ja helfen. Es ist schlimm aber du kannst doch nicht so über dich alles ergehen lassen. Aber wenn Lore es (…) nicht anders will was bleibt dir übrig. Vor paar Wochen war Lore doch einen Nachmittag bei Hilde, Reinhold11 war gerade verreist u. wo war Manuel [?] Ob sie wohl davon gesprochen hat was sie vorhat mit ihm? Ja lieber Hans sei fest u. stark (…) so vor Gott bringen alle deine Sorgen zu unserem Heiland dem großen Menschenfreund (…) er wird dir Halt geben und alles zum besten führen! wo jetzt das Fest der Liebe vor der Tür steht u. wir so garnichts dir schicken können, was uns von Herzen weh tut. musst du noch immer so voll sorge sein. Lieber Hans! die Untertasse von Frau Dr. Wimmers (?) ist sehr gut geworden nur von (…) sieht man, zum brennen ging es nicht, da es kein echtes Porzellan ist. Nun für heute noch herzlichste Grüße u. alle guten Wünsche von Vater und Mutter.

[auf dem Kopf stehend am unteren Rand der Vorderseite mit Tinte geschrieben:]

Maria ist mit Thresa ins Erzgeb. 14 Tage. Christl ist hier macht uns viel Freude

Ein Geburtstagsbrief

Bis zur Erfindung des PC und des Internets war ja die Kunst des Briefschreibens für alle äußerst wichtig. Auf diese Weise sind eindrucksvolle, lebensnahe Dokumente erhalten geblieben. Ein solches ist der Brief meiner Tante Maria Zimmermann12 an meinen Vater, ihren Schwager Hans. Mich, also seinen dreijährigen Sohn Manuel umsorgte sie nachdem sie wegen des Bombardements ihrer Heimatstadt Münster/Westfalen in Dresden Lebte, außer ihren beiden kleinen Töchtern Theresa und Christa, auch mit. Tante Maria hatte unter anderem deswegen eine besondere Beziehung zu mir, weil ich am selben Tag geboren war wie ihre dritte Tochter, die allerdings nur zwei Wochen alt wurde.

Zwei Tage vor Vaters Geburtstag beginnt sie in der Dresdener Wohnung der Schwiegereltern13 nachts den Brief an ihren Schwager. Genannt werden auch: ihr Mann Rudi, der an heranrückenden Ostfront ist; Lore ist meine Mutter, die mich manchmal mit dem Kosenamen „Rübezahl“ rief. Hilde ist die erste Frau von Hans, meinem Vater; seine zweite ist (damals noch) Lore. Onkel Herbert ist zweifellos Herbert Wendt14, den meine Mutter von München aus, wo sie eigentlich mit Ehemann Hans und Manuel wohnte, in Berlin aufgesucht hat und bei dem sie auch lebte, obwohl er ebenso wie sie verheiratet war und als Schwerverwundeter mit seiner Frau in Berlin wohnte15. Tante Thea ist meine Kindergärtnerin. Der Rechtsanwalt (Dr. Christ) wurde von meinem Vater wegen der (sodann nach Kriegsende im November 1946 erfolgten) ins Auge gefassten Scheidung kontaktiert.

……………………………….

Dresden, den 25. Jan. 1945

Lieber Hans!

Wir warten jeden Tag auf Deine Post, doch leider kam noch nichts an. wie magst Du nur nach München gekommen sein, hoffentlich gut. Morgen ist nun Dein Geburtstag, nimm meinen herzlichsten Glück und Segenswunsch dar. Wünsche Dir eine gute u. gesunde Heimfahrt u. alles was Du für ein wirkliches Heim brauchst. – Von Lore hörten wir noch nichts. Hilde schickte heute Manuels Kartoffelkarte. Die Milchkarten würde Lore selber schicken, ebenso die neuen Lebensmittelk. Mutter wird der Hilde schreiben, dass ich umgehend die polizeiliche Abmeldung gebrauche. Hoffentlich schickt sie alle Lebensmittelkarten, sonst bekommt sie es mit mir zu tun. Manuel ist lieb und folgsam. Seine Blase bessert sich etwas. Am Dienstag war ich zum ersten Mal mit den Kindern zur Gymnastikstunde auf der Räcknitzstr. Hans es ist wunderbar schön u. für die Kinder gesund u. gut. Jede Stunde hat nur 4 – 5 gleichaltrige Teilnehmer, jedes Kind wird extra bei jeder Übung hergenommen. Manuel kommt besonders in Fuß und Bauchübungen dran. Schade, dass wir früher so etwas nicht gemacht haben. Theresa geht mit und so wird auch Rudis so lang gehegter Wunsch Wirklichkeit. Beide Kinder sind ganz begeistert. Manuel ist schon munterer, doch oft schreckt er noch zusammen. Schläge bekommt er bei uns, von mir, keine. Samstagabend hab ich ihn gebadet ohne zu weinen, er schlief Samstag u. Sonntag hier. Die Eltern waren Sonntag in Mockethal mit Theresa, Manuel u. Christel blieben bei mir. Christel schlief noch, ich deckte für uns schön den Tisch, wir hatten einen ganzen Kuchen, da nahm er mich in den Arm und meinte es sei Weihnachten. Er war sehr erstaunt, dass ich ihm Kuchen gab. Da kam zum ersten mal eine Erinnerung an seine Mutter. „Ich Manuel soll Kuchen haben, Manuel von Mutter Schläge bekommen, Finger davon, Kuchen ist nur für Onkel Herbert. Onkel Herbert wohnt bei Mutter im Parblatz“ Von dem Wort erzählt er so viel, was ist das nur, ich nehme an, Parkplatz? Als ich dieser Tage ihm Bonbon gab, kam wieder eine Erinnerung. „Manuel auch von Onkel Herbert Bonbons bekommen, Manuel sollte im Garten spielen bis es dunkel war. 2 X Manuel Bonbons bekommen von Onkel Herbert.“ Er ist noch klein und wird bald die Erinnerungen vergessen haben. Was nettes hat er von seiner Mutter noch nicht erzählt. Er fühlt sich sehr wohl und man spürt keinerlei Heimweh. – Eine ganz besondere Liebe verbindet ihn auch mit Tante Thea. Abends um 5 Uhr treffe ich mich mit ihr und übergebe ihr Manuel. Du solltest dann mal sehen, wie er sich freut und wie gern u. freudig er zu ihr springt. Du bist meine Tante Thea und dann drückt er sie. Frl. Focke leuchten dann die Augen und es macht sie glücklich, man sieht, sie hat ihn sehr gern. Sie hat als Kindergärtnerin Verbindung u. bekommt für den Kindergarten oft Spielzeug. Weil dort aber sehr viel kaputt geht, behält sie besonders hübsche Sachen zu Hause und Manuel darf dann damit spielen. Er rühmt sich stets damit, „ich bin Tante Thea ihr einzigstes Kind ihr lieber Manuel“, das macht Theresa oft ganz wild und sie möchte auch bei T. Thea schlafen. Du siehst, er fühlt sich und ist munter. – Es ist schon spät, die Eltern schlafen und ich möchte noch an Rudi schreiben. Rudi war jetzt in Münster, sie sind durch die Trümmerstadt marschiert, weil keine Bahn dort fährt. Rudi hatte sich Erlaubnis vom Major geholt u. sah nach unserm letzten Hab und Gut im Keller. Schnell nahm er sich sein Rad, suchte Li, Mutter und Thea auf. Er lag dann in Holland an der westfälischen Grenze. Doch leider war das nur ein kurzer Traum. Gestern bekam ich eine kurze knappe Karte. Alles fertig u. bereit, es geht in den Einsatz. Du kannst Dir nun meine innere Not vorstellen. Rudi dabei zu wissen, wo es so toll zu geht und dabei die beißende scharfe Kälte, wo er gar keine Kälte an den Händen verträgt ohne nicht Beulen zu bekommen.

Warst Du noch zeitig genug in München? Bist Du noch mit dem Rechtsanwalt einig geworden? Wird alles gut und schnell gehen, was meint Dr. Christ? Hilde schrieb heute an Mutter, für Manuel einen Kuß, an Theresa u. Christa keine Silbe – Dir lieber Hans alles Gute, besonders im kommenden Lebensjahr.

In Herzlichkeit Maria, Verzeih, ich bin sehr müd.

Zehn Tage danach

Den nachfolgenden Brief schrieb ebenfalls meine Tante Maria an meinen Vater. Es dauerte wohl einige Tage, bis er fertig war.

So sah ein Kameramann der Kino-Wochenschau nach dem „Terrorangriff“ der britischen Bomber einen der zerstörten Dresdener Straßenzüge. In anderen Straßen wurden Leichenberge verbrannt.

Mockethal16, den 24. Febr. 45

Lieber Hans!

Leider haben wir noch nicht Deine genaue Anschrift. Frl. Focke schrieb uns nur eine eventuelle. Ja nun haben sie auch Dresden klein gemacht und zwar so gründlich, daß es wohl genug ist. Am 13. Febr. abends kurz nach 9 Uhr ging die Sirene, es war kein rechter Alarm u. keine richtige Vorwarnung. Nach dem ersten Angriff brannte die ganze Innenstadt u. Neustadt, wir hatten nur geringen Wände u. Glas Schaden, die Kinder lagen schon wieder zu Bett, da heulte die Sirene auf u. schon fielen die Bomben. Wir lagen im Keller alle lang und hatten mit unserem Leben abgeschlossen, da mußten wir durch 5 Mauerdurchbrüche raus und kamen auf der Gneisenaustr. raus. Das letzte Stück mussten wir durch Flammen u. Funken runter zur Elbe wo die ersten Toten lagen. Eine ganze Nacht haben wir dann lang auf der Vogelwiese verbracht. Der Sturm u. Regen nahm zu, wir mußten uns legen wir wären sonst auch in die Elbe getrieben. Mutter, Theresa, Christel und ich waren zusammen, Vater fanden wir erst 24 Std später in Mockethal. Als es hell war machten wir uns auf und liefen über Blasewitz bei O. Julius vorbei bis Mockethal. Von Schachwitz an brauchten wir Christel nicht mehr zu tragen da haben wir die zwei Mädel in einen Wäschekorb gelegt und im Wagen gezogen. Vater u. Mutter waren noch öfter in Dr. um ihre Kartoffeln und Koffer aus dem Keller zu holen, nun haben sie alles hier. Am folgenden Sonntag brachte uns Frl. und Frau Focke Manuel. Hier sind wir nun zu 8 Flüchtlingen im Haus.

Sicher, wir waren erst froh ein Dach über dem Kopf zu haben, doch von Tag zu Tag ist der Zustand unerträglicher. Wir haben oben ein Zimmer eingerichtet bekommen was das Schlafz. von Christl, Theresa u. mir ist, das selbe Zim. dient uns als Küche, Wohnz. Bad u. Waschküche. Die Eltern und Klaus schlafen auf dem Boden, wo es durch jede Ziegel pfeift. Von Manuel ist der Koffer mit allem gerettet, auch von Vater u. Mutter. Ich hatte meine Kinder und das ist alles. Weder von den Kindern noch von mir, kein Teil an Wäsche oder Kleider gerettet. Alles, aber auch alles verloren. Rudi hat weder Taschentuch noch Strumpf noch sonst was. Seit Rudis Abreise haben wir noch keine Post und bei Roermont toben so tolle Kämpfe. Es wäre das letzte was ich erlebte, wenn ich nun noch den Rudi vermissen müsste.

Alles woran sein Herz hing, was Li in Münster für uns rettete, alles ist hin. Die Eltern von Hilde (Lübars) sind im Keller erstickt u. dann verbrannt. Wir hätten nicht länger im Keller liegen dürfen, dann wäre es uns auch so ergangen. Aber es ist bitter und hart vor einem gar nichts mehr zu stehen.

Bei diesem Wetter ist es besonders schwer, die Kinder dürfen nicht raus u. müssen nur in dem einen Zimmer hocken, wo Mittags Christl schlafen muss u. sich alles abspielt. Unten sind Dieter (Reinis) und Hannel der kleine freche Karl-Heinz, da dürfen unsere Kinder sich nicht sehen lassen.

Dresden ist vollständig hin, Morgen werden es 14 Tage und noch lagen heute Pragerstr. voll Leichen, Vater war heut in Dr[esden]. Ja Hans, Pflege, Ordnung, Ruhe alles ist hin. Unsere Kinder werden bald die Züge der Zeit in ihren kleinen Gesichtern haben. Von Lore kam nichts. Bommels Briefe sind auch verbrannt. Alle Eure Bekannten, Frl. Pentsch (?), Fr. Schuster und wie sie alle heißen mögen haben nichts gerettet. Es war der schlimmste Angriff, den der Feind gemacht hat. Jede Straße und Haus für Haus ist fort und so ganz Dresden. Vater war heute durch die ehemalige Stadt geklettert, es wären alle Kirchen hin, keine steht mehr. Die Brühl’sche Terrasse Oper, Schauspiel, Schloss, Zwinger, Altmarkt u. alles was Du Dir denken kannst, es war einmal. Von Lore kam nicht mal eine Nachfrage, ob Manuel lebt17, wo doch das Radio u. der O.K.W.18 Bericht den furchtbarsten Terror geschildert hat. Ja lieber Hans, wie mag das alles enden u. dann sind wir arm u. stehen vor einem nichts. – Die Eltern schlafen und Kinder auch, nun muss ich Schluss machen. Hannel unten, hat Scharlach u. Ilse u. Dieter haben die Krätze. Man sagt ja, ein Unglück kommt selten allein.

Frl. Focke waren erst hier bei Pillnitz in Hosterwitz, jetzt sind sie mit ihrem letzten Hab und Gut nach Gertgand, b. Tharandt. Frl. Focke schrieb mir heute einen Brief, sie war ganz verzweifelt, es gibt doch noch keine Verkehrsmittel u. wie mit ihrem letzten Hab und Gut fortkommen.

Lieber Hans, so sieht es hier aus, traurig was. Nun werde ich auf die Couch zu Theresa gehen. Es steht für mich fest, dass wir nicht lange das aushalten. Aber wohin, und was anfangen?

Dir lieber Hans beim Kerzenschein, herzliche Grüße

von Deiner Schw.19

Maria.

Hoffentlich kommt bald Post von Dir, daß der Brief fort kann.

Heute am 10. März20 kam Deine erste Post an, eine Karte, gestempelt aus dem Würtemb.21 Von Rudi noch keine Post – .

Onkel Rudi kam nach ihrer späteren Erzählung ein paar Tage später von der Ostfront auf dem Bahnhof Dresden an, beide trafen sich dort zufällig und fuhren mit dem letzten Zug Richtung Münster. Kurz darauf muss mich mein Vater von den Großeltern abgeholt und nach Plannegg bei München gebracht haben.

Schnappschuss

Dem unkundigen Betrachter dieses Bildes käme vermutlich nicht so ohne weiteres in den Sinn, dass es sich hier um Mutter und ihren Sohn Manuel handelt. Während ihre Körperhaltung statisch, wenn nicht sogar steif wirkt, versucht der an diesem Tag fünf Jahre alt gewordene Sohn auf den Fotografen zuzugehen, indem er mit dem linken Bein nach vorne schreiten will und mit der rechten Hand auf den Fotografen zeigt. An seiner linken Hand hält mich jedoch die Mutter fest, die ihren Kopf mit der symmetrisch gescheitelten Frisur neigt und (mit offensichtlich strenger Mine) etwas – wie die Mundpartie zeigt – Strenges zu mir sagt. Dabei blicke ich wie Hilfe suchend, jedenfalls fragend zum Fotografen, der offensichtlich mein Vater ist.

Zur Entstehungsgeschichte dieses Fotos ist überliefert, dass ich, nachdem ich in Dresden 1945 die Bombardierungen der Stadt ohne Mutter bei den Eltern des Vaters er- und überlebt hatte22, beim Vater in Planegg bei München lebte.

Währenddessen hatte sich Mutter, wie schon im Herbst und Winter 1945/46 de facto nicht um mich gekümmert, was natürlich zur Folge hatte, dass ich sie kaum noch kannte. Später erzählte sie mir einmal entrüstet, dass Vater – angeblich auf ihren Wunsch hin, mich zu sehen – zu jenem Geburtstag mein Treffen mit der „Geburtstagsfrau“ arrangiert habe. Somit ist es ein Dokument dieses Treffens. Im November 1946 ließen sich die Eltern scheiden.

Eine befremdliche Beziehung zwischen Mutter und Kind kommt also in dem Bild zum Ausdruck. Die grobkörnige Qualität der Fotografie ist vermutlich dem schlechten Filmmaterial der Nachkriegszeit geschuldet.

Nachkriegszeit

Planegg

Es war doch eine schöne Zeit mit dem Vater.

Als ich zwei Jahre nach dem Krieg in die Schule kam, muss es einen herrlichen warmen Sommer gegeben zu haben. In Planegg bei München wurde ich im April zum ersten Mal eingeschult.

So sieht sie heute aus. Von der Schule weiß ich nur noch, dass uns einmal auf dem Schulweg ein Mädchen mit einer Brille entgegen kam und ein neben mir gehender Junge sagte: „Mein letzter Wille: ’ne Frau mit Brille!“ Dabei fand ich Brillen eigentlich irgendwie schick. Sie machten einen Menschen doch bedeutend.

Denn dort, wo ich damals gerade zu Hause war, lebte ich schon einige Zeit bei meinem Vater. Er wollte gern Vati von mir genannt werden. Immer wenn er seine Brille aufsetzte, wurde es spannend. Er holte einen Stapel Papier aus seiner Tasche, oder aus einer Schublade, redete irgendwelche unverständlichen Sachen, wedelte manchmal mit den Armen und schnitt Grimassen, wie es mir vorkam. Damit ich nicht störte, sollte ich am besten in den Garten spielen gehen. Klar, heute weiß ich natürlich, dass er als Schauspieler immerzu etwas auswendig lernen musste.

Die Frau, die auch dort war, trug eine Brille. Sie war unheimlich klug, denn immer dann, wenn mir irgendetwas wehtat, besonders als ich mir einmal die Finger in der Türe geklemmt hatte, konnte sie helfen. Tatsächlich war sie eine Frau Doktor und hatte ihren Mann im Krieg verloren. Im Haus gab es zwei Etagen. Unten waren die Zimmer, in die ich nur dann rein durfte, wenn mir wirklich etwas wehtat. Das müssen wohl die Praxisräume gewesen sein.

Oben gab es, außer einem großen Bad mit einer weißen Wanne und dem Fenster zum Garten, gegenüber auch ein Schlafzimmer mit einem riesigen Bett. In dem durfte ich manchmal schlafen. Dafür wurde im Sommer der Rollladen runter gelassen, weil es draußen noch so hell war. Als ich aber einmal immer noch nicht einschlafen konnte, rollte Frau Doktor ein Tischchen zur Türe rein, auf dem sich ein seltsamer Kasten befand mit einem gekrümmten Trichter oben dran. An der Seite war eine Kurbel, mit der wurde in dem Kasten etwas aufgezogen. Mir wurde versprochen, dass ich jetzt eine sehr schöne Musik hören dürfe, zum Einschlafen. Sie setzte den Tonarm auf die schwarze, runde Scheibe, ging raus und ließ mich der Musik alleine.

Das war ja wahnsinnig aufregend. Dabei konnte man doch nicht einfach einschlafen! Als die Musik aufhörte bin ich zur Tür und rief, ich wolle es noch einmal hören, denn es sei so schnell zu Ende gewesen. Viele Jahre später kam mir diese Szene plötzlich wieder in Erinnerung, als ich bewusst die „Kleine Nachtmusik“ von Mozart hörte.

In jenem heißen Sommer zauberte Vater für mich. Im Garten hinter dem Haus gab es im Garten Büsche und Bäume und ziemlich hoch stehendes Gras. An einem Nachmittag, als es wieder so schwül war, stellte er eine große Zinkwanne ins Gras an der Hauswand. Oben im Bad im ersten Stock füllte er die Badewanne mit Wasser. Oh je! Da muss ich wohl helfen, das Wasser in Eimern die Treppe runter zu tragen, schoss es mir durch den Kopf, als ich das sah. „Das lassen wir das Wasser am besten selber machen“, sagte Vater lachend als er mein fragendes Gesicht sah. Aus dem Keller holte er einen Gartenschlauch, warf ein Ende davon durch das geöffnete Badezimmerfenster in den Garten, tauchte das andere Ende ins Wasser und band es mit einer Schnur am Wasserhahn fest, damit es nicht dem langen Ende hinterher rutschen konnte. Unten im Garten saugte er dann wie ein Verdurstender an dem über der Zinkwanne hängenden Schlauchende, bis ihm plötzlich ein Schwall Wasser in den Mund schoss. Tatsächlich kam das Wasser jetzt von alleine runter und ich konnte so viel plantschen wie ich wollte, um mich danach in der schönen warmen Sonne wieder richtig aufzuwärmen. So genoss ich viele schöne Tage.

Bei dieser Gelegenheit gelang mir einmal ungewollt ein denkwürdiges Experiment. Im Gras liegend fand ich Schnecken und Regenwürmer. Die fanden offensichtlich nicht den Weg in das so angenehm wärmende Sonnenlicht und krochen immer im Schatten am Boden herum. Auf der steinernen, fast glühend heißen Platte des Gartentisches bot ich so vielen Schnecken und Würmern wie ich nur finden konnte einen Platz an der Sonne. Die wussten meine Fürsorge aber überhaupt nicht zu schätzen und wollten immerzu über die Tischkante abhauen, was ich so lange verhindern konnte, bis sie reglos liegen blieben. Vater kam dazu, sah dass ich bekümmert war und erklärte mir, warum diese Tiere die wärmenden Sonnenstrahlen nicht so toll finden können wie ich, und dass sie nun wegen meines Irrtums gestorben seien.

Als ich später, im dritten oder vierten Schuljahr, bei der Behandlung von Sprichwörtern dieses erklären sollte: „Dem eenen sin Uhl is dem annern sin Nachtigall“, da verstand ich die Übertragung der Bedeutung und konnte mich melden: „Den Schnecken gefallen die Sonnenstrahlen nicht, weil sie dadurch leicht austrocknen und sterben. Aber uns gefallen die Sonnenstrahlen sehr, und wenn es so schön warm ist dürfen wir barfuß laufen.“

Mit der Frau Doktor bin ich auch zum ersten Mal in einem Auto gefahren. Es war ein VW-Käfer, ich saß vorne rechts. Bei der Fahrt über einen holprigen Waldweg schleuderte ich rauf und runter, hin und her und konnte mich nirgends festhalten. Einmal kam ich vom Spielen heim und biss hungrig in eine Scheibe Brot, die ich in der verschmierten Hand hielt. Auf die Ermahnung meines Vaters, ich solle mir doch erst die Hände waschen, antwortete sie: „Dreck scheuert den Magen.“

Vaters Beziehung zur Frau Doktor dauerte wohl bis zum Ende des Winters. Jedenfalls holte mich meine Mutter im Frühjahr 1948 und brachte mich zu ihren Eltern nach Witten im Ruhrgebiet, denn sie selbst war als Schauspielerin mit einem Tourneetheater immerzu von einer Stadt zur anderen Unterwegs.

Witten

In Witten lernte ich Muttis Eltern und ihren Bruder Wolfgang Noll kennen. Genauer gesagt in Witten-Annen. Diese Großeltern waren wie Mutti aus Dortmund. Aber dort war die Wohnung kaputt, zerbombt. Nun lebten sie hier in einer ziemlich engen Dachgeschosswohnung im dritten Stock, und ich Sechsjähriger kam noch dazu. Wenn man die Treppe hochkam stand man gleich in der Küchen-Sitzecke mit Kohleherd. Wegen der Enge spielte ich möglichst viel mit anderen Kindern draußen, meist auf der Straße.

Das eine Ende der Robert-Koch-Straße war zu. Auf dem hohen Bahndamm fuhr nur selten mal eine Rangierlok. Auf jeder Seite der Straße, in der wir Kinder ab und zu von einem Kohlenauto beim Ballspielen gestört wurden, standen vielleicht acht oder zehn Wohnhäuser. Die sahen alle ähnlich schwarzgrau oder schwarzbraun aus. Am anderen Ende brauste der Verkehr über die Annenstraße. Die in der Straßenmitte fahrende Straßenbahn bimmelte immer laut, wenn sie an der Haltestelle vor unserer Kreuzung wieder anfuhr.

Einmal kamen mehrere dunkelgrüne Autos, offene Jeeps mit uniformierten Soldaten mit brauner Gesichtsfarbe angebraust und fuhren oft im Kreis auf der Kreuzung. Dabei riefen sie unverständliche Wörter und warfen uns Kindern Schokoladentafeln zu. Wir waren nämlich an die Ecke gelaufen und wollten wissen, was da los ist.

„Das sind die Engländer!“ rief einer. Da waren sie natürlich unsere Freunde. Sie zeigten beim Lachen ihre weißen Zähne und wir lachten und winkten ihnen hinterher.

Oft beobachteten wir Kinder von der Straßenecke aus, wie im letzten Augenblick ein paar Männer auf das Trittbrett der schon fahrenden Bahn sprangen und sich an einer Griffstange festhielten. „Hast du das gesehen! Der hat’s nicht mehr geschafft!“ kommentierte schon mal mein neuer Freund Willi einen vergeblichen Versuch. Ein Mann sprang wieder runter und lief dabei ein paar Schritte mit. Die nächste Haltestelle nach links konnten wir noch sehen. Bevor die Straßenbahn wieder stand und die Türen aufgingen, sprangen manche Männer vom Trittbrett wieder ab und eilten zum Bürgersteig. Das sah richtig sportlich aus. Von unserer Kreuzung zur nächsten waren es vielleicht fünfhundert Meter. Wir Knirpse bewunderten die Männer. Keiner von uns traute sich das zu.

In Witten wurde ich erneut eingeschult, weil hier das Schuljahr damals nicht im august sondern im April begann. Zur Schule musste ich etwa eine Viertelstunde in dieselbe Richtung laufen wie die Straßenbahn fuhr. Eines Morgens, ich war spät dran, die anderen schon weg, da wurde ich mutig und rannte zwischen den Autos durch zur gerade wieder anfahrenden Straßenbahn. Beim Aufspringen kamen meine Füße zwar auf das Trittbrett, aber das Gewicht des Ranzens auf dem Rücken kriegte ich nicht schnell genug hoch. Bums saß ich auf der Straße, um mich herum ein Quietsch- und Hupkonzert. Auf dem Schulhof lachten mich nicht alle aus. Einige, auf deren Meinung ich Wert legte, bewunderten mich sogar. Willi war stolz, mein Freund zu sein.

Trotzdem schlich ich mittags ziemlich geknickt zu den Großeltern. Oma hatte schon Wind von meiner Heldentat bekommen und meinte zur Begrüßung: „Warte nur, bis Onkel Wolfgang nach Hause kommt!“ Das Mittagessen wollte mir nicht schmecken. Spielen auf der Straße machte nicht richtig Spaß. Da saß ich lieber endlos an den Hausaufgaben. Schönschrift üben.

Es war schon fast dunkel, als Onkel Wolfgang die Treppe hoch kam. Ich erkannte ihn am Schritt. Oma erklärte ihm, was sie erzählt bekommen hatte. Das hörte sich an, als sei am Morgen wegen mir in der ganzen Stadt der gesamte Verkehr total zusammengebrochen. Er ging noch vor dem Abendessen mit mir wortkarg in sein Zimmer, befahl mir meine Hosen auszuziehen und mich bäuchlings nackt auf sein Bett zu legen. Langsam schnallte sich dieser Onkel Wolfgang, der doch der Bruder meiner Mutter war er, seinen breiten Ledergürtel ab, der Riemen pfiff durch die Luft und klatschte immer wieder auf mein Hinterteil. Meine Schmerzensschreie und mein herzzerreißendes Flehen, doch bitte aufzuhören, hat sicher die ganze Straße gehört. Gleichmäßig und grausam sauste das Leder erneut auf mich herunter. Ausweichen ging nicht. Es schien ewig zu dauern, bis er endlich aufhörte.

Ich glaube, ich habe es meiner Mutter nie verziehen, dass sie so einen Bruder hatte. Natürlich konnte sie nichts dafür. Das wusste ich damals auch schon. Auch dass Oma ihn nicht gebremst hat, habe ich ihr übel genommen. Jedenfalls konnte ich ihnen später keine Briefe mehr schreiben, die mit „Liebe Oma, lieber Opa“ begannen.

Bald darauf fand ich mich bei katholischen Nonnen wieder. Weil nämlich Muttis Eltern durch die Bombenangriffe auf Dortmund selber nervlich ziemlich am Ende waren und mit mir nicht klarkamen, hat sie, wie ich viel später erfuhr, über Verwandte, die in Ludwigsburg wohnten, für mich einen Platz in einem Kinderheim im Schwarzwald ausfindig gemacht. „Bei denen gab es damals sogar Butter“, schwärmte sie später bewundernd.

Unterdeufstetten

Es war jener denkwürdige Sommer, in dem es neues Geld gab. Einer der anderen Jungen in dem Kinderheim zeigte stolz einen Geldschein herum, der so bunt aussah, als hätte man ein paar Heidelbeeren darauf verschmiert. Münzen gab es keine. Als Groschen galten da bedruckte Zettelchen, etwas größer als Briefmarken. Ein paar Jahre lang konnte man dann einem, der etwas nicht so schnell kapierte, was man gerade erklärt hatte, statt „Ist der Groschen gefallen?“ „Papiergroschen?“ fragen, weil die eben länger brauchten, bis sie im automat unten ankamen. So erlebten wir Kinder die Währungsreform 1948.

Natürlich schrieb ich so gut es ging, wie die anderen Kinder auch, Briefe an Mutti, Vati, die Großeltern und manchmal auch an Tante Maria. Im Absender musste ich „Unterdeufstetten Krs. Crailsheim“ schreiben.

In die nahen Wälder wurden wir zum Himbeeren suchen geschickt, wahrscheinlich für Nachtisch oder Marmelade. Dazu gab es jedenfalls einen Wettbewerb. Je nachdem, wie viel man im Töpfchen anbrachte, gab es kleine Gewinne und Belohnungen. Wer je im Wald Himbeeren gesammelt hat weiß, dass die gerne zusammen mit Brennnesseln wachsen. Es war warm, wir hatte alle kurz Ärmel und folglich ziemlich zerstochene Arme. Da sah ich doch nicht ein, dass ich bei dieser Quälerei anderen etwas abgeben sollte. Mir schmeckten die Himbeeren ausgezeichnet. Der Boden meines Töpfchens war stets höchstens zwei Finger hoch bedeckt. Nie wurde ich bei der Ehrung der guten Sammler vor dem Tischgebet zu Beginn einer Mahlzeit lobend erwähnt. Aber mir machte das nichts aus.

Doch beunruhigte mich die Angst vor den Nächten, in denen ich oft von der entsetzlichen Bombennacht in Dresden träumte.

Dieser bekannte Blick vom Rathaus auf einen Teil der bombardierten Altstadt zeigt auch irgendwo jenen Platz, auf dem das Geschehen meines so oft wiederholten Traumes stattfand.

Der nächtens oft, aber unregelmäßig wiederkehrende Stand in der Hölle: Erst schön ins Bett gebracht mit einem heißen, eingewickelten Ziegelstein am Fußende. Denn es war im Februar 1945 bitterkalt. Plötzlich sehe ich mich auf einem Platz. Rings umgeben von in Flammen stehenden Häusern. Glühende Dachrinnen fallen herunter, Sirenengeheul, Menschen schreien, Bäume brennen wie Fackeln. Dazu ein Höllenlärm, Feuerwehren. Rechts neben mir ein Mann23. Mit einer Gasmaske vor dem Gesicht versucht er, auch mir ein solches Monstrum anzupreisen und überzuziehen, schnorchelt schnarrend durch den Nasenschnippel aus Gummi, um es lustig zu machen. Ich wehre mich mit Leibeskräften dagegen, so etwas überzuziehen und schreie fürchterlich. Davon wachte ich dann auf und lag in einer Pfütze.24

Dagegen hatte ich eine Art Doppelstrategie erfunden. Zum Einschlafen in dem Schlafraum mit vielleicht acht Kindern in den Doppelstockbetten sang ich mir zum Trost leise unter der Decke Liedchen vor, zum Beispiel das Weihnachtslied „Ihr Kinderlein kommet, o kommet doch all“. Das hat wirklich geholfen. Wenn ich dann doch wieder mal mitten in der Nacht von meinem Albtraum hochschreckte und das Unheil fühlte, schlich ich leise in den Waschraum und holte ein paar trockene Handtücher, breitete sie auf dem Laken aus und legte mich drauf. Morgens war dank meiner Körperwärme und der Saugfähigkeit der Handtücher nichts mehr zu sehen.

Ein anderes Erlebnis wirkte bis heute nach. Wenn einem schlecht wird, dann ist doch irgendetwas nicht in Ordnung. Und mir wurde hundeelend, als in der Kirche ein Schwall der Wolke aus dem Schwenkkesselchen von da vorne bei mir ankam. Der so bunt gekleidete Pfarrer sprach und sang dabei unverständliche Worte. Neben mir die Frau mit der riesigen weißen Haube auf dem Kopf drückte mir auf die Schultern. Ich sollte mich auch so knien wie alle anderen, auch die vielen Kinder, die mit mir vorhin reingekommen waren.

Mir blieb fast die Luft weg, mein Magen revoltierte schon. Irgendwie rettete ich mich zum Ausgang an die frische Luft. Später erklärte mir jemand, dass es der Weihrauch gewesen sei, von dem mir schlecht geworden war. Da ich als „Evangelischer“ sowieso nur aus „Erbarmen“ aufgenommen worden war, musste ich nicht mehr unbedingt an den Gottesdiensten in der Kirche teilnehmen. Es tut mir leid, aber seit dieser Erfahrung wecken Weihrauch und die katholische Kirche in mir körperliche Abwehrreaktionen.

Aber es gab auch wirklich Gutes. Das regelmäßige Essen war manchmal sogar mehr, als wir Hungermäuler vertilgen konnten. Von den Salzkartoffeln fiel schon mal eine vom Teller, die ich dann mit den Fingern in den Mund steckte. Die Finger wurden ganz klebrig davon. Einmal nachmittags wollten wir aus Leisten und Papier Drachen bauen und stellten fest, dass der Klebstoff alle war. Da holte ich aus der Küche ein paar von den übrig gebliebenen Salzkartoffeln und wir benutzten sie zum Kleben der Papierränder um die Schnur-Bespannung. Das hielt dann richtig auch bei stärkerem Wind. So hatte ich eigentlich den späteren Klebestift erfunden.

Dort waren viele heimatlose, aber immerhin davongekommene Kinder. Ein etwas älterer Zigeunerjunge, der noch bis in den November die kurze Lederhose trug, freundete sich mit mir an. Einmal schob er mir die Haare aus der Stirn nach oben und meinte am Haaransatz zu erkennen, dass ich ein langes Leben vor mir hätte. Das war vermutlich der Grund, dass ich immerzu sicher war, noch sehr viel Zeit zu haben.25

Rotenburg an der Fulda

In Rotenburg war Mutter 1948 mit ihrem Nachkriegs-Tournee-Theater wegen der Währungsreform „hängen geblieben“, wie sie es erklärte26. Denn von einem Tag auf den anderen sind nach ihren Worten die Menschen nicht mehr in die Theatervorstellungen geströmt, weil sie nicht mehr so viel Geld hatten. Zu Reichsmark-Zeiten habe es viel Geld gegeben, aber kaum etwas zu kaufen. Nun sei es umgekehrt gewesen. Allerdings erinnere ich mich dunkel an zwei Jedermann-Aufführungen, eine im Schlosspark und eine auf dem Neustädter Marktplatz zwischen dem historischen Rathaus mit seinem beidseitigen Treppenaufgang und der Kirche. Ich verstand natürlich kaum etwas und wunderte mich, warum die vielen Leute klatschten.

Zu jenem Tournee-Theater, das in sich Northeim gebildet hatte, sich wohl bald nach der Währungsreform auflöste, gehörte auch Heinrich Wilhelm Winkler, ein ehemaliger Wehrmachtsoffizier, der in Northeim dazugestoßen war, sich um die technischen Fragen wie beispielsweise die Kulissen kümmerte und es verstand, Mutter zu erobern. Schließlich war sie, die im November 1946 von meinem Vater geschieden worden war, der Star der Truppe.

Der Gesichtsausdruck erscheint diesmal heiter und zeigt ein vorsichtiges Lächeln, wobei der Blick nicht direkt auf die Kamera – und somit auf den Betrachter – gerichtet ist. Die linke Augenbraue scheint auch leicht nach oben gezogen zu sein, als ob sie gerade einen witzigen Gedanken hätte.

Sie trägt ihr viele Jahre lang heißgeliebtes „Apfel-und Birnen-Kleid“, das sie von der Leiterin des Rotenburger Amerika-Hauses aus einem Care-Paket geschenkt bekommen hatte. Die zu einem beachtlichen Aufbau zusammengesteckten Haare lassen diesmal den Hals und die Ohren frei, an denen zierliche Ohrringe zu sehen sind.

Seltsame Gartenidylle, Sommer 1949

Heinrich Wilhelm Winkler, ein ehemaliger Wehrmachtsoffizier, war als technischer Assistent (Kulissenbauer) zu der Theatertruppe gestoßen und hatte es verstanden, Mutter zu erobern, die quasi der Star des Ensembles war. Beide fanden Unterkunft in der Neustadt am Kirchplatz 13 bei Erika Voigt, die damit ihre Verehrung der Schauspielerin zum Ausdruck brachte. An Heiligabend 1948 heirateten beide, nachdem er mich Siebenjährigen vier Wochen zuvor aus dem Kinderheim in Unterdeufstetten im Schwarzwald auf recht abenteuerliche Weise per Anhalter, teils im LKW, im Ami-Jeep, teils mit dem Zug geholt hatte.

Frau Voigt besaß auch ein Gartengrundstück an der Straße in Richtung Braach nahe der Fulda, in dem wir im Sommer 1949 öfters am Wochenende waren.

Das Bild zeigt in mehrfacher Hinsicht ein sehr charakteristisches, auch psychologisch merkwürdiges Arrangement. Da steht ein Wohnzimmersessel im Gras, auf dem Mutter sitzt. Sie hat ein Sommerkleid mit Puffärmeln an und auf dem Schoß zwei aufgeschlagene Bücher übereinander liegen, die von beiden Händen gehalten werden. Ihr Blick geht leicht versonnen, fast träumerisch an der Kamera vorbei. Die Frau erweckt nicht den Eindruck, als ob sie mit den beiden anderen Personen eine engere oder gar glückliche Beziehung hätte.

Hinter dem Sessel steht ihr Heinz, wie sie ihn nannte, stützt sich mit den Ellbogen auf die Sessellehne und blickt ernst hinab auf seine Eroberung. Neben Mutter sitze ich in heller, kurzer Hose und im weißen Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln zu ihrer Rechten auf der Armlehne, was sicher ziemlich unbequem war, und blicke mit zusammengezogenen Augenbrauen kritisch zur Kamera (vermutlich wurde die Aufnahme mit Stativ und Selbstauslöser gemacht27). Meine helle, für einen Achtjährigen sehr unpraktische Kleidung trug im Zusammenhang mit den offenen Sandalen offenbar nicht dazu bei, mich in dieser Situation zu freuen.

Überhaupt war Mutti, wie sie genannt werden wollte (Vater wünschte sich übrigens bis ins hohe Alter von neunzig Jahren Vati genannt zu werden.) gar nicht so, wie ich erhofft hatte. Als ich zum Beispiel zum Muttertag von meinem spärlichen Taschengeld für ein paar Groschen ein Blumentöpfchen, ich glaube es war ein blau blühendes Usambaraveilchen, für sie kaufte und es ihr erwartungsvoll freudig überreichte, meinte sie, ich hätte das Geld lieber sparen sollen.

Als Schuljunge in Rotenburg an der Fulda

Bei meiner erneuten Einschulung sagte der Lehrer, Lesen könne ich auch aus der Zeitung lernen. Schulbücher gab es kaum. An der Wand zwischen zwei Fenstern neben meinem Platz hing ein Bilderrähmchen mit dem Text „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“.

Das Klassenfoto war natürlich ein wichtiges Ereignis für unsere Klasse der Jacob-Grimm-Schule. Wir freuten uns über die Unterrichtsunterbrechung. Die Jungs mussten sich auf eine Bank stellen. Natürlich war ich schon immer der längste. Stolz trug ich auch bei dieser Gelegenheit meine schwarze Ski-Mütze, um die ich bei Mutti lange gekämpft hatte. Sie wollte mich eine Zeit lang zu einer weißen Baskenmütze überreden, mit der ich mich aber vor den anderen Jungen doch nicht sehen lassen konnte!

Im Unterricht schrieben wir anfangs noch mit Griffeln auf Schiefertafeln. Für Fehlerberichtigungen und Wegwischen mussten wir immer ein nasses Schwämmchen dabei haben. Im zweiten Schuljahr durften wir dann mit wunderbar bunten Federhaltern und Tinte in Hefte schreiben. Dabei konnte man ja die Fehler nicht mehr einfach wegwischen und es gab, bis die ersten Füller aufkamen, manchen hässlichen Klecks, wenn das gläserne Tintenfass zu voll oder fast leer war. Unser Klassenlehrer übte mit uns für die Aufsätze auch den Schreibstil: Mit dem Satz „Tuen tut man mit der Tute!“ gewöhnte er uns an, für „tun“ möglichst viele andere Verben zu verwenden.

In den Pausen gab es Schulspeisung, die von Amerikanern gespendet worden war. Hessen lag ja wie Bayern in der amerikanischen Besatzungszone. Davon wurden wir aber meistens nicht satt. Deswegen bekamen wir auch Pausenbrote mit. Meine waren oft mit ungesalzenem Schmalz bestrichen. Zuhause glaubte man nämlich, ohne das Salz hätte ich weniger Durst und würde nicht so viel trinken, weil ich doch die „schwache Blase“ hatte. Aber es gab ja in der Schule Wasserhähne, zum Beispiel auf dem Klo.

Auf dem Schulhof riefen sie mich „Lulatsch“. Das kam daher, dass ich nicht nur in der Klasse der Längste war und deswegen immer ganz hinten sitzen durfte. Bei den Keilereien in den Pausen musste man aufpassen, nicht auf den Boden zu kommen, weil der, wie heute noch manche Feldwege, nur mit Schotter und Split bestreut war. Meine langen Arme und die Fäuste hielten meist schon mehrere Gegner erfolgreich auf Distanz.

Vierzehn Äpfel

In jenem Sommer nach der Heirat legte Mutter mir einmal vierzehn Äpfel auf das Sims eines Schrankes, der in dem Dachzimmerchen von „Voigts Erika“ stand, der Vermieterin. Damals war ich acht Jahre alt. Sie sagte: „Wenn Du jeden Tag einen isst, dann weißt du beim letzten, dass wir an dem Tag wiederkommen.“

So war es dann auch. Das bedeutete nicht unbedingt Familie, aber es war ganz passabel. Mittagessen bekam ich solange in einer Gaststätte, der sie zuvor ein entsprechendes Abonnement bezahlt hatten. Alles andere, das Aufstehen, Waschen, Anziehen, Frühstück und Abendessen, blieb mir überlassen. Nein, ich kam mir nicht wirklich verlassen vor, eher hatte ich ein Gefühl von Freiheit und Abenteuer. Es war ein wundervoller Sommer und ich konnte am nahen Fulda-Ufer mit anderen spielen, dann abends lange auf der Fensterbank sitzen und lesen, bis es dunkel wurde. Niemand befahl mir etwas, und niemand verbot mir etwas.

Ein anderes Mal „verpfiffen“ mich Nachbarn, nachdem die beiden von einer Tour mit der Marionettenbühne zurückgekehrt waren, weil ich aus einer an der Straße stehenden vollen Mülltonne die obendrauf liegenden wunderschönen, roten Apfelschalen geklaubt und gegessen hatte.

Auch später, als wir beim Rotenburger Ortslandwirt Papst einquartiert waren, da war ich dann neun Jahre alt, wurde ich wieder öfters wochenweise alleine gelassen, weil Mutti wieder mal bei der Marionettenbühne „Die Holzköppe“, beheimatet in Steinau an der Straße, aushalf, mit der Onkel Heinz mit Goethes Faust über Land zog und sie auch dazu verdiente.

Ich erinnere mich noch genau, wie das elektrische Licht in der Deckenlampe eines Abends plötzlich ausging. In meiner Ahnungslosigkeit holte ich beim Kaufmann an der Ecke nacheinander etwa fünf neue Glühbirnen, aber alle brannten nicht. Da ich ja kein Geld hatte, ließ ich anschreiben. Das kannte ich von den bisherigen kleinen Einkäufen für die Familie. Die vermeintlich nicht funktionierenden Birnen vergrub ich nacheinander im Ascheneimer.

Nach einer Woche kamen sie wieder, aber erzählte ich nichts davon, denn ich hatte Angst, weil ich die Glühbirnen ja nicht bezahlt hatte. „Onkel Heinz“ schraubte als erstes im Flur eine neue Sicherung rein. Zwanzig Pfennige kostete die. Der Kaufmann aber verlangte natürlich von ihnen das Geld, und so wurde ich denn gefragt, was es mit den fünf Birnen auf sich gehabt hätte.

Daran, dass sie nicht mit mir geschimpft haben, merkte ich, dass Mutti und „Onkel Heinz“ bei der Sache anscheinend selbst nicht ganz wohl war. Heute darf ich vermuten, dass beide ein schlechtes Gewissen hatten und froh waren, dass nichts Schlimmeres passiert war.

Als ich dann einmal im November meines neunten Lebensjahres – scheinbar war wieder einmal kein Erziehungsberechtigter vorhanden – Passanten und Nachbarn aufgefallen war, weil ich sie abends auf der Straße mit einer selbst gebastelten Maske erschreckt hatte, wurde ich auf Vermittlung des Rotenburger Dekans, bei dem ich schon vorher in den Kindergottesdienst gegangen war, nach Imshausen bei Bebra in ein damaliges Kinderhaus gebracht.

Dort, nahe der Zonengrenze, waren schon einige Kinder gestrandet. Hausherrin war Vera von Trott zu Solz. Ihr Bruder Adam war als Widerstandskämpfer 1944 ermordet worden.

Ich blieb dann sechseinhalb Jahre und fühlte mich auch wie zu Hause. Bis auf den Schluss, als man mich sechzehnjährigen, pubertierenden Jüngling wegen eines eigentlich harmlosen Techtelmechtels mit einer drallen Blonden loswerden wollte.

Anmerkungen:

* „Von der Reue“, a) in: Montaigne Essais, Hg. R. R. Wuthenow, Frankfurt a. Main 1980, 2. Aufl., S. 189; b) in: „Vom Schaukeln der Dinge“ – Montaignes Versuche, Hg. Mathias Greffrath, Berlin 1984, S. 42 ff

** s. b), ebda.

1Diesen Sachverhalt fand ich bei meiner Suche im Internet heraus.

2Diesem Schriftstück, von mir wegen seines meinen Vater vielfach ausführlich diffamierenden Inhalts PAMPHLET genannt, entnahm ich die hier zitierten Einzelheiten im Zusammenhang mit meiner Entstehung.

31995, er wurde 90 Jahre alt.

4Das müsste demnach etwa 1935 entstanden sein.

5Der Vergleich mit einem Urlaubsbild von 1964 zeigt analoge Gesichtszüge.

6s. nachfolgende Selbstauskunft der Mutter, die ich wegen der herabsetzenden Passagen als „Pamphlet“ bezeichnete.

7 Mit Kopierstift von Großmutter Zimmermann in Sütterlinschrift auf Feldpostpapier geschrieben, was oft die Entzifferung erschwert; wörtliche Abschrift, soweit wie möglich; auf der Rückseite macht auch der braune Feldpostaufdruck manche Worte unleserlich: „?“)

8Die Mutter hatte den Rufnamen Eleonore, verkürzt Lore

9 Wegen Ausbombung in Münster

10 Nationalsozialistische Volkswohlfahrt

11 Vaters älterer Bruder u. dessen Frau Hilde

12Die Frau des jüngeren Bruders meines Vaters

13Paul und Hedwig Zimmermann hatten schon 1943 die in Münster ausgebombte Schwiegertochter in ihrer Dresdener Wohnung aufgenommen.

14Herbert Wendt (* 16. Mai 1914 in Düsseldorf; † 26. Juni 1979 in Baden-Baden) war ein deutscher Schriftsteller. 1939 wurde er als Kriegsberichterstatter zur Marine eingezogen und schrieb in dieser Zeit zahlreiche Reportagen, aber auch ein von der Marineleitung erbetenes Buch, „Der Kampf um die Ostsee“ (1943), in dem die Eroberung der baltischen Staaten im Sommer 1941 nachgezeichnet wurde. Nach einer schweren Verwundung vor Kreta kehrte Wendt 1943 nach Berlin zu seiner Familie zurück. Nach dem Ende des Krieges war er Mitglied des Antifaschistischen Komitees in Berlin und schrieb für den Aufbau-Verlag. Durch seine schriftstellerischer Tätigkeit sowie die Arbeiten seiner Frau, der Schriftstellerin und Journalistin Ingeborg Wendt, kam er mit Lion Feuchtwanger und Arnold Zweig, später auch mit Bertolt Brecht in engeren Kontakt. (nach Wikipedia)

15Wendt hatte als junger Mann in den 30-er Jahren einige Zeit in der Dortmunder Wohnung von Lores Eltern zur Untermiete gelebt und war nach Tante Marias Informationen ihr Jugendschwarm.

16Der Ort liegt etwa 10 km elbabwärts von Dresden.

17Dass die Mutter zu diesem Zeitpunkt noch lebte, bestätigte sich ja später. Am 17. Februar hatte ich Geburtstag und wurde 4 Jahre alt! Daran muss doch jede Mutter denken. Welchen Schluss Vater aus dieser Mitteilung seiner Schwägerin zog, ist auch bekannt: Sie war als Mutter offenbar unfähig. Aber sie muss ihre entsprechenden Gedanken und Entschlüsse in die zeitlebens geführten Tagebücher geschrieben haben. Denn nach Ihrem Tod kämpfte „Onkel Heinz“, auch „Nö“ genannt, später als Witwer sogar gerichtlich gegen mich, damit ich sie nicht noch zu seinen Lebzeiten lesen konnte. Und als ihn schließlich das Zeitliche gesegnet hatte fand ich heraus, dass ausgerechnet jene Seiten ihrer Berliner Zeit mit Herbert Wendt herausgerissen bzw. jedenfalls entfernt waren. Die geradezu extensive Ausführlichkeit und beschriebene Emotionalität der Eintragungen über die spätere Nachkriegs- und beginnende Wirtschaftswunderzeit lässt nur den Schluss zu, dass sie so seit jeher geschrieben hatte.

18 Oberkommando der Wehrmacht

19Schwägerin

20Erst jetzt konnte Tante Maria den Brief abschicken.

21Also war er nicht mehr an der Italienfront.

22s. die Briefe von Großmutter Zimmermann und Tante Maria an den Vater.

23Vermutlich handelte es sich um den Freund von jener Kindergärtnerin Tante Thea, der sich vielleicht im Fronturlaub bei ihr aufhielt.

24Dies Leiden endete für mich erst als ich etwa 22 Jahre alt war, nachdem mir Tante Maria als ich sie besuchte ausführlich die Zusammenhänge erzählt hatte.

25 Inzwischen habe ich gemerkt, dass diese Einstellung dazu führte, Vorhaben und gewünschte Ziele, die nicht zur notwendigen Alltagsbewältigung passten, immer wieder aufzuschieben.

26Währenddessen war ich, nachdem Mutter mich 1947 in Planegg bei München vom Vater abgeholt hatte und ich zunächst ein halbes Jahr bei ihren Eltern in Witten gelebt hatte, ebenfalls ein halbes Jahr in einem katholischen Kinderheim im Schwarzwald untergebracht.

27Zeit seines Lebens war Onkel Heinz, oder wie ich ihn später nannte: Nö, ein leidenschaftlicher Foto-Amateur, der sich eine Zeit lang sogar die jeweils neueste Kleinstbildkamera MINOX leistete.