Foto: Panorama-Museum in Bad Frankenhausen, Gemälde von Werner Tübke
[Transparenzhinweis: Am ersten Tag nach Erscheinen dieses Essays wurde der Link zu dem Anlass vom Ende hier an den Anfang eingefügt.]
Hier hat Claudine Nierth von Mehr Demokratie e.V. begründet, warum sie wegen des öffentlich beklagenswertenen Zustands der Demokratie in Deutschland sprachlos sei:
Das war schon bei den klassischen Griechen so. Zwar waren damals (etwa um 400 vor Chr.) in Athen nur die begüterteten Noblen, deren Haus- und Landwirtschaft von Sklaven erledigt wurde, nicht jedoch ihre Ehefrauen wahlberechtigt. Aber Sie entwickelte sich nach der erfolgreichen Verteidigung gegen die Perser (Marathon!) in einer Art Selbstbefreiung und ist bis heute die erste bekannte Form der direkten Demokratie, bei der die Bürger direkt an der Gesetzgebung und Exekutive beteiligt waren, im Gegensatz zur modernen repräsentativen Demokratie. (Quelle: nach Wikipedia/KI)
Und heutzutage? Sehen wir uns um! Deutschland ist von Ländern umgeben, die sich ihre Demokratie erkämpft haben. Allen voran Frankreich mit seiner Revolution von 1789, in der die adligen Privilegieninhaber geköpft wurden. Im selben Jahr wehrten sich die Holländer mit ihrer „Brabanter Revolution“ gegen die Ansprüche des aufgeklärten Absolutismus – also der Fürsten. Die Polen kämpften seit 1794 gegen die drei Teilungen unter Fremdherrschaft (Preußen/Russland/Österreich), 1944 im Warschauer Aufstand gegen die deutsche Besatzung, und 1980 mit der Gewerkschaft Solidarność gegen die kommunistische Diktatur. (Wikipedia)
Die neuere Geschichte der Schweiz als Bundesstaat beginnt mit der Annahme der Bundesverfassung von 1848. Vorläufer der modernen Schweiz waren die seit dem Ende des 13. Jahrhunderts als lockerer Bund organisierte Alte Eidgenossenschaft, die von 1798 bis 1803 bestehende zentralistisch aufgebaute Helvetische Republik sowie die 1803 gegründete und 1815 neu organisierte «Schweizerische Eidgenossenschaft». (Wikipedia)
Die eidgenössischen Kantone gewannen 1648 im Westfälischen Frieden (nach dem 30jährigen Krieg!) die Souveränität vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Diese Souveränität wurde 1815 vom Wiener Kongress bestätigt und die vor der «Franzosenzeit» bestehenden, bis heute gültigen Grenzen der Schweiz bis auf kleinere Abweichungen anerkannt. (Wikipedia)
Deutsche Revolutionen wie der Bauernkrieg 1524 bis 1526, die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche 1848 oder die Revolution der Arbeiter- und Soldatenräte 1918/19 wurden von den jeweiligen Obrigkeiten brutal und erfolgreich niedergeschlagen, die Weimarer Republik hatte wegen des Versailler Vetrages und dessen moralischer wie finanzieller Kriegschuld-Zuweisung durch die Siegermächte keine wirkliche Chance. Nach 1945 wurde die Demokratie den Deutschen infolge des verlorenen Krieges von den Siegermächten entweder verordnet oder geschenkt.
Im Langzeitgedächtnis Deutschlands fehlen in Sachen Revolution einfach Erfolgserlebnisse. „Revolution in Deutschland? Das wird nie etwas. Wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich noch eine Bahnsteigkarte!“ Das soll Lenin gesagt haben. (Mit einer Bahnsteigkarte konnte man billig den Bahnhof betreten, um zum Beispiel jemanden vom Zug abzuholen.)
Und nun noch ein besonderer – wenn auch verspäteter – Ausflugs-Tipp:
So ist jedenfalls die online gefundene geschichtliche Darstellung – ohne Fragezeichen – überschrieben. Ob die Verantwortlichen der Korbacher Filiale der Sparkasse Waldeck-Frankenberg die Geschichte ihrer Organisation kennen? Sparkassen wurden einst gegründet, weil viele einfache Menschen sonst nie die Anschaffungen bezahlen konnten, die sie brauchten. Allein wenn man das imposante Korbacher Hauptgebäude aus Beton und Glas am Nordwall 6 bis 8 mit etwas Abstand sieht, entsteht die Frage: „Haben das die Sparer bezahlt, weil sie das brauchten?“
Auf dem Foto ist zusehen, was aus der Vorstellung von „Gemeinschaft“ geworden ist: Aus dem Gebäude links, in dem sich mal eine Sparkassen-Filiale befand, wo sich Menschen treffen und miteinander sprechen konnten, hat sich seit Kurzem eine Filiale der Allianz-Versicherung breit gemacht. Nun steht nur noch der Geldautomat – draußen. Die Vereinzelung der Menschen ist wieder mal zwangsläufig. Bei Wind und Wetter.
Eine Überweisung am Service-Point ausfüllen? Ältere Menschen, womöglich ohne Auto? Bleibt nur der Weg in die Innenstadt…
Seit dem Umzug in die Kreisstadt lasse ich mir die grauen Haare regelmäßig vom selben Haarkünstler bearbeiten. Er ist gebürtiger Syrer und war damals Angestellter eines Salons, in dem außer ihm nur Friseurinnen arbeiteten. Natürlich bevorzuge ich prinzipiell in dieser Angelegenheit einen Mann. Da ich als Lehrer im Ruhestand schon in mehreren Integrationskursen zahlreiche Geflüchtete unterrichtet hatte, kamen wir von Anfang an ins Gespräch.
Er kam vor etwa elf Jahren, hatte keinen Integrationskurs, brachte sich online selbst Deutsch bei, fing an zu arbeiten und zeigte sogar in meinem Beisein der Praktikantin einer Schule, was eine Façon-Frisur für Herren ist. Wir diskutierten jedes Mal über Bürokratie und seine zukünftigen Möglichkeiten. Eine Meisterprüfung wäre leider zu teuer. Auch die jeweilige politische Situation kam zur Sprache. An einem Sonntag begrüßte er mich fröhlich in einem Freizeit-Park, als er mit einem anderen an mir und meiner Frau, die wir auf einer Bank saßen, vorbei kam.
Mittlerweile hat sich der syrische Frisör mit einem eigenen Salon selbständig gemacht. Sehr aufwändig und ansprechend eingerichtet, nahe der Fußgängerzone mit vielen Kundinnen; zwangsläufig Terminvereinbarung!
Also dieses Mal fragte ich, da ja der Nah-Ost-Konflikt, auch die Bomben auf iranische Atomanlagen und Israels Gaza-Krieg ungeahnte Opferzahlen ergaben, was er davon halte. „Dazu sage ich nichts. Dann sage ich auch nichts Falsches!“ war seine Antwort.
Offenbar war mein Friseur aus dem Iran nun auch im ängstlichen Alltag der deutschen Gegenwart angekommen. Schließlich gehört er zu einer Risikogruppe und möchte wahrscheinlich – anders als wir „Normalos“ seinen Aufenthaltsstatus behalten.
… ist zu erleben im Rahmen des Kommunalen Kinos „Der besondere Film im September“, jeweils mit Einleitung durch die Regisseurin Karin Kaper und ein anschließendes Filmgespräch:
Am Dienstag dem 9.September 2025 um 19 Uhr in der Wandelhalle von Bad Wildungen-Reinhardshausen. Außerdem gibt es am 9.9.25 schon um 10.30 Uhr eine Schulvorführung.
„Der Film über Walter Kaufmann ist mehr als nur gelungen, er ist ein großartiges und bewegendes Zeitdokument, das von dem greisen Duisburger und Berliner Schriftsteller noch selbst besprochen wird. Es wirkt wie ein Wunder, wenn der fast 100jährige durchs Bild läuft und seine Erinnerungen und die Stationen seines ungewöhnlichen Lebens professionell kommentiert. Dezent und stilsicher begleitet die Filmmusik die Bilder, ein großer Film über den Schriftsteller, Seemann und Weltbürger.“ freute sich Thomas Becker in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung.
Und Landolf Scherzer staunte in Ossietzky: „Was für ein Film! Die Filmemacher Karin Kaper und Dirk Szuszies beherrschen meisterhaft, die Fakten des Lebens von Walter Kaufmann geschickt zusammenzusetzen und kunstvoll in Bildern zu gestalten. Der Film besticht nicht nur durch die lebendigen Originalinterviews mit dem 97jährigen, sondern auch durch historische Zeitaufnahmen und eindrucksvolle Landschaften von den Orten seines Lebens. Ein bewegender Film. Weltgeschichte. Deutsche Geschichte.“
„In ehrendem Gedenken an Walter Kaufmann, der am 15.4.2021 im Alter von 97 Jahren in Berlin gestorben ist.“ so die Filmemacher.
Und weiter: „Schillernder als jedes Drehbuch ist das Leben von Walter Kaufmann. Er setzt mit seinem Leben ein nachwirkendes Zeichen gegen jede Form von Rechtsruck, Rassismus und Antisemitismus, die wieder bedrohliche Ausmaße in unserem Land angenommen haben. Der Film ist ein Appell an uns Lebende, die elementaren Menschenrechte und demokratischen Errungenschaften entschlossen zu verteidigen.
Der Film beleuchtet das Leben des jüdischen Schriftstellers Walter Kaufmann, dessen Eltern in Auschwitz ermordet wurden, und der selbst durch den Kindertransport nach England gerettet wurde. Romanautor, Seemann, Korrespondent und politischer Aktivist: Im Leben des in Berlin geborenen und im Alter von 97 Jahren gestorbenen Walter Kaufmann spiegeln sich auf einzigartige Weise historisch bedeutende Ereignisse wieder.
Er war ein Mann, der die Welt, begreifen, beschreiben, verändern wollte. Nach langen Jahren des Exils in Australien entschied er sich 1956 bewusst für ein Leben in der DDR. Dank seines australischen Passes, den er zeit seines Lebens behielt, bereiste er als wahrer Kosmopolit die ganze Welt. Der Film folgt seinen wesentlichen Lebenslinien: den katastrophalen Folgen des Nationalsozialismus, der Bürgerrechtsbewegung in den USA, dem Prozess gegen Angela Davis, der Revolution in Kuba, den Atombombenabwürfen in Japan, der unendlichen Geschichte des israelisch-palästinensischen Konfliktes, dem Zusammenbruch der DDR. Alles Themen, die uns bis heute beschäftigen.
Im Film wird auf imponierende Weise deutlich, wie Walter Kaufmann bis zu seinem letzten Atemzug gegen den erschreckenden Rechtsruck, sowie zunehmenden Rassismus und Antisemitismus unserer Tage kämpfte.
Der Film verwebt eindrucksvoll biografische Berichte, historische Aufnahmen, private Briefe und literarische Texte zu einem bewegenden Zeitdokument. Er beleuchtet zentrale Themen wie Exil und Identität, Verfolgung und Überleben, politisches Engagement, persönliche Verantwortung sowie Versöhnung und stellt zugleich immer wieder die Frage, was Geschichte heute mit uns zu tun hat. Ein berührendes Porträt eines außergewöhnlichen Menschen, ein wichtiger Beitrag im Rahmen lebendiger Erinnerungskultur.“
Weltpremiere Jüdisches Filmfestival Berlin Brandenburg August 2021; Dokumentarfilmwettbewerb Filmkunstfest Schwerin September 2021; Öffentliche Präsentation Leipziger Filmkunstmesse September 2021
Die Maruki-Galerie für die Hiroshima-Panels wurde mit einem einzigen Ziel vor Augen gebaut: sicherzustellen, dass jeder jederzeit die Hiroshima-Panels sehen kann, die vom Ehepaar Iri und Toshi Maruki erstellt wurden.
Iri und Toshi waren Augenzeugen der Folgen des Atombombenabwurfs auf Hiroshima und begannen Ende der 1940er Jahre mit der Zusammenarbeit an ihrem charakteristischen Werk, den Hiroshima-Panels, zu einer Zeit, als Informationen über die Atombombenabwürfe durch die durchgesetzte Zensur noch streng eingeschränkt waren von US-geführten Besatzungstruppen. Die Marukis verbrachten während der Besatzung und in den folgenden Jahrzehnten viele Jahre damit, zu reisen und ihre Werke in verschiedenen Wechselausstellungen auszustellen (mit Veranstaltungsorten wie Bürgerzentren, Tempeln und Schulturnhallen), bevor sie ihre eigene Galerie zur Unterbringung der Hiroshima-Tafeln gründeten.
Zusätzlich zu ihren nuklearbezogenen Werken arbeiteten die Marukis im Laufe ihrer Karriere weiterhin an einer Reihe von Kunstwerken zusammen, die sich umfassender mit Krieg, Umweltverschmutzung und anderen Formen der Gewalt befassen.
Die Hiroshima Panels (I) – (XIV) sind dauerhaft in der Maruki Gallery ausgestellt. * Die Hiroshima Panels (XV) “Nagasaki” sind im Atombombenmuseum Nagasaki ausgestellt.
Wir haben unseren Onkel durch die Atombombe verloren. Zwei junge Nichten wurden getötet. Unsere jüngere Schwester erlitt Verbrennungen und unser Vater starb nach sechs Monaten. Viele Freunde und Bekannte kamen ums Leben. Iri fuhr drei Tage nach dem Bombenabwurf mit dem ersten Zug von Tokio nach Hiroshima. Toshi folgte einige Tage später. Etwas mehr als zwei Kilometer vom Zentrum der Explosion entfernt stand noch das Haus der Familie.
Aber das Dach und die Dachziegel und Fenster wurden durch die Explosion weggeblasen, zusammen mit Pfannen, Schalen und Essstäbchen aus der Küche. Dennoch blieb das verbrannte Bauwerk bestehen, und dort hatten sich zahlreiche Verletzte versammelt und lagen von Wand zu Wand auf dem Boden. Wir trugen die Verletzten, verbrannten die Toten, suchten nach Nahrung und fanden verbrannte Blechplatten, um das Dach zu flicken. Mit dem Gestank des Todes und Fliegen und Maden um uns herum wanderten wir umher, genau wie diejenigen, die die Bombe erlebt hatten.
Anfang September kehrten wir nach Tokio zurück und erfuhren mit Sicherheit, dass der Krieg zu Ende war. In Hiroshima hatten wir die Kraft verloren, darüber nachzudenken, ob der Krieg zu Ende war oder nicht. Es vergingen drei Jahre, bis wir begannen, die Hiroshima-Panels zu bemalen. Wir zogen unsere Kleidung aus, um an Bilder aus dieser Zeit zu erinnern und sie zu zeichnen, und andere stimmten zu, für uns zu posieren, weil wir die Atombombe bemalten. Wir begannen darüber nachzudenken, wie ein 17-jähriges Mädchen eine Lebensspanne von 17 Jahren hatte und wie das Leben eines 3-jährigen Kindes drei Jahre gedauert hatte.
Für das erste Gemälde haben wir rund neunhundert menschliche Figuren, darunter auch die Skizzen, gemalt. Wir dachten, wir hätten eine große Anzahl gemalt, aber in Hiroshima starben bis zu 140.000 Menschen. Als wir weiter malten und für die Seelen der Toten beteten, in der Hoffnung, dass es nie wieder passieren wird, wurde uns klar, dass wir sie nie alle malen könnten, selbst wenn wir unser ganzes Leben lang malen würden. Eine Atombombe in einem Augenblick verursachte den Tod von mehr Menschen, als wir jemals darstellen konnten. Langanhaltende Radioaktivität und Strahlenkrankheit führen dazu, dass Menschen auch jetzt noch leiden und sterben. Das war keine Naturkatastrophe. Während wir durch unsere Gemälde malten, gingen uns diese Gedanken durch den Kopf.
Maruki Iri Maruki Toshi
ICH Geister
Es war eine Prozession von Geistern. Die Kleidung brannte im Handumdrehen. Hände, Gesichter, Brüste schwollen an; bald platzten violette Blasen und die Haut hing wie Lumpen. Eine Prozession von Geistern, die Hände vor sich gehalten. Sie zogen ihre zerrissene Haut mit sich, fielen erschöpft, stapelten sich ächzend aufeinander und starben. Im Zentrum der Explosion erreichte die Temperatur sechstausend Grad. Ein menschlicher Schatten wurde auf Steinstufen geätzt. Verdampfte der Körper dieser Person? War es hin und weg? Niemand bleibt übrig, um uns zu sagen, wie es in der Nähe des Hypozentrums war. Es gab keine Möglichkeit, ein verkohltes, blasiges Gesicht von einem anderen zu unterscheiden. Stimmen wurden ausgedörrt und heiser. Freunde würden ihre Namen sagen, sich aber trotzdem nicht wiedererkennen. Ein einsames Baby schlief unschuldig und hatte eine wunderschöne Haut. Vielleicht überlebte es, geschützt durch die Brust seiner Mutter. Wir hoffen, dass zumindest dieses eine Kind erwacht, um weiterzuleben.
1950 Sumi Tinte, Kohle oder Conte auf Papier 180 × 720 cm
II Feuer
“Pika!” Ein kräftiger blau-weißer Blitz. Die Explosion, der Druck, der Feuersturm nie auf der Erde oder im Himmel hatte die Menschheit eine solche Explosion erlebt. Im nächsten Moment brachen Flammen aus und sprangen himmelwärts. Das Feuer brach die Stille über den grenzenlosen Ruinen und brüllte. Einige lagen bewusstlos da und wurden von heruntergefallenen Balken festgehalten. Andere, die wieder zu Sinnen kamen, versuchten, sich zu befreien, wurden jedoch von dem purpurroten Feuer umhüllt. Glasscherben durchbohrten Bäuche, Arme wurden verdreht, Beine knickten ein, Menschen stürzten und verbrannten bei lebendigem Leibe. Eine Frau umarmte ihr Kind und kämpfte darum, sich unter einem umgestürzten Pfosten zu befreien. “Beeilen Sie sich! Beeilen Sie sich!” Jemand rief. “Es ist zu spät.” “Dann gib uns das Kind.” “Nein, du rennst. Ich werde mit meinem Kind sterben. Sie würde nur noch durch die Straßen wandern.” Die Frau schob die helfenden Hände weg und wurde von den Flammen verzehrt.
1950 Sumi Tinte, Pigment, Leim, Kohle oder Conte auf Papier 180 × 720 cm
III Wasser
In der Mitte des Hügels befanden sich Berge von Leichen, die mit Köpfen aufgetürmt waren. Sie waren so gestapelt, dass ihre Augen, Münder und Nasen so wenig wie möglich zu sehen waren. In einem noch unbebauten Hügel bewegte sich der Augapfel eines Mannes und starrte. Lebte er noch? Oder hatte eine Made sein totes Auge bewegt? Wasser! Wasser! Die Menschen wanderten umher und suchten nach Wasser. Auf der Flucht vor den Flammen weinend nach Wasser, um ihre sterbenden Lippen zu benetzen. Eine verletzte Mutter floh mit ihrem Kind ans Flussufer. Sie schlüpfte in tiefes Wasser und kletterte an den Untiefen entlang. Als das wütende Feuer den Fluss verschlang und hin und wieder anhielt, um ihr Gesicht zu benetzen, rannte sie weiter, bis sie schließlich an diese Stelle kam. Sie bot ihrem Kind eine Brust an und stellte fest, dass sie ihren letzten Atemzug getan hatte. Das Bild von Madonna und Kind aus dem zwanzigsten Jahrhundert: eine verletzte Mutter, die ihr totes Kind wiegt. Ist das nicht ein Bild der Verzweiflung? Mutter und Kind sollen, müssen ein Symbol der Hoffnung sein.
1950 Sumi Tinte, Kohle oder Conte auf Papier 180 × 720 cm
IV Regenbogen
Ein nackter Soldat stand nur mit Stiefeln und Schwert da. Junge Soldaten mit gebrochenen Armen und zerquetschten Beinen. Die Verletzten liefen ziellos, ihre zerlumpte Haut war mit Decken bedeckt. Es gab keinen Ton, nur Totenstille. Dann zeigte ein verrückter Soldat zum Himmel und schrie immer und immer wieder, “Ein Flugzeug! A B-29!” Es war kein Schatten eines Flugzeugs zu sehen. Verletzte Pferde, rasende Pferde liefen amuck. Amerikanische Flieger, die kamen, um Japan zu bombardieren, waren festgenommen und in einer Hiroshima-Kaserne untergebracht worden. Die Atombombe tötete Freund und Feind gleichermaßen. Zwei Soldaten lagen zerknittert auf der Straße in der Nähe der Kuppel, ihre Handgelenke noch gefesselt. Der hoch in die Luft geblasene Rauch und Staub bildete eine Wolke, und bald strömten große Regentropfen vom ansonsten klaren Himmel herab. Ein Regenbogen wölbte sich über diese geschwärzte Kuppel. Der siebenfarbige Regenbogen glänzte mit Brillanz.
1951 Sumi Tinte, Pigment, Leim, Kohle oder Conte auf Papier 180 × 720 cm
V Jungen und Mädchen
Sie lagen tot in Haufen am Flussufer und zeigten mit dem Kopf auf das gesuchte Wasser. Als sie den Fluss erreicht hatten, blieb das Wasser unterhalb des Steilufers unerreichbar und sie starben mit ungelöschtem Durst. Schulkinder wurden mobilisiert, um beim Bau von Brandschneisen zu helfen. Viele Klassen wurden vollständig vernichtet. Zwei Schwestern hielten sich gegenseitig die verwandelten Figuren. Andere junge Mädchen starben ohne Kratzer am Körper. Als er dieses Gemälde sah, erzählte uns ein Zimmermann, der der Bombe ausgesetzt war, “Meine Tochter ist die einzige Überlebende ihrer Klasse. Aber ihre Finger waren zusammengedreht und verbrannt, ihr Gesicht verschmolz mit ihrer Kehle und sie kann nicht gehen. Ihr Körper ist seitdem nicht mehr gewachsen, als sie dreizehn Jahre alt war.”
1951 Sumi Tinte, Kohle oder Conte auf Papier 180 × 720 cm
VI Atomwüste
Nichts zu essen, keine Medizin. Kein Schutz vor dem fallenden Regen. Kein Strom, keine Zeitungen, kein Radio, keine Ärzte. Maden brüteten auf Leichen und Verwundeten, Fliegenwolken wimmelten und summten. Der Geruch von Leichen hing am Wind. Die Menschen wurden nicht nur körperlich verletzt, auch ihre Stimmung war tief verletzt. Eine Frau, die nicht darauf achtete, ihre zerlumpte Haut zu bedecken, suchte nach ihrem Kind. Sie wanderte tagelang umher. Auch heute noch werden in Hiroshima manchmal menschliche Knochen ausgegraben.
1952 Sumi Tinte, Pigment, Leim, Kohle oder Conte auf Papier 180 × 720 cm
VII Bambushain
Viele suchten Schutz in einem Bambushain. —Es war kein Erdbeben, aber was war es? —Könnte es eine Ansammlung von Brandbomben gewesen sein? —Es war eine Bombe, nein, ein Todesstrahl. —Auf jeden Fall gab es ein Flash—pika—dann ein dröhnendes Donner—don. —Nr. In Hiroshima haben wir keinen Donner gehört. Es war so groß, es gab nur einen Blitz. Sie sprachen weiter über diesen Moment. Am Stadtrand von Hiroshima gab es viele Bambushaine, und die Atombombe verbrannte den Bambus auf einer Seite. Die Obdachlosen suchten in den Hainen Zuflucht. Und einer nach dem anderen hauchten sie ihren letzten Atemzug. Die Leute riefen uns um Hilfe, aber uns fehlte der Mut, zu ihnen zu gehen. In unserem Haus war kein Platz mehr für Verletzte. Unter der Mitaki-Brücke befand sich ein Leichenhaufen. Eine Person, die dort hockte, schien am Leben zu sein, aber wir konnten weder Alter noch Geschlecht erkennen. Am Morgen des 26. August fiel der Kopf der Person nach vorne und sie starb. Die Bombe wurde am 6. August abgeworfen, sodass diese Person zwanzig Tage lang schweigend durchgehalten hatte. Es gab niemanden, der diese Leichen entsorgen konnte, und sie wurden erst bewegt, als ein Taifun im September sie ins Meer spülte.
1954 Sumi Tinte, Kohle oder Conte auf Papier 180 × 720 cm
VIII Entlastung
Die Feuer brannten und brannten. Menschen vom Land kamen, um nach Verwandten zu suchen, und führten sie aus der Stadt hinaus. Viele starben unterwegs. Lange Schlangen wurden gebildet, um Rationen zu erhalten. Ein Mädchen starb in der Nähe und hielt immer noch ihre Portion Hartschrott in der Hand. In den Körpern der Eltern des Mannes unserer Schwester waren Glasscherben eingelassen. Ihre Knöchel schwollen so groß an wie ihre Oberschenkel. Sie hatten in unserem Haus Zuflucht gesucht und wir beschlossen, sie zu ihrem ältesten Sohn zu bringen. Wir stellten sie auf einen Karren und zogen ihn bis nach Kaita, wobei wir durch das Zentrum der Explosion fuhren. Es regnete sanft. Nach der Bombe regnete es oft in Hiroshima. Obwohl es August war, folgte ein kalter Tag auf den anderen. Jemand hat es uns unter Schluchzen gesagt, “Ich habe meine Mutter verlassen. Ich weinte, ‘Verzeihen Sie mir!’” In dem hektischen Fluchtversuch mussten sich Ehefrauen und Ehemänner im Stich lassen, Eltern mussten ihre Kinder im Stich lassen. Es vergingen viele Tage, bis die Hilfe organisiert wurde.
1954 Sumi Tinte, Pigment, Leim, Kohle oder Conte auf Papier 180 × 720 cm
IX Yaizu
Die erste Atombombe wurde 1945 auf Hiroshima abgeworfen, gefolgt von einer zweiten Bombe auf Nagasaki. 1954 explodierte eine Wasserstoffbombe auf dem Bikini-Atoll. Die Besatzung der Daigo Fukuryu Maru, einem Fischerboot aus dem Hafen von Yaizu, wurde mit der Asche des Todes überschüttet. Sechs Monate später starb Kuboyama Aikichi. Dreimal sind die Japaner Atomwaffen zum Opfer gefallen.
[Nachwort, Mai 1983] Nicht nur die Japaner, sondern auch Mikronesier in der Nähe des Bikini-Atolls wurden mit den tödlichen Folgen der Wasserstoffbombe bestäubt. Die gesamte Insel war verschmutzt. Diejenigen, die flohen, kehrten später in ihre Heimat Bikini zurück, nur um durch die Reststrahlung an Krebs und Leukämie zu erkranken. Viele leiden noch. Yaizu und Bikini—a teilten das Schicksal.
1955 Sumi Tinte, Pigment, Kleber, Kohle oder Conte auf Papier 180 × 720 cm
X Petition
Stoppt die Atombombe! Stoppen Sie die Wasserstoffbombe! Schluss mit dem Krieg! Der Reiz der Mütter im Tokyoer Suginami Ward breitete sich in ganz Japan aus. Kinder, Mütter, Väter, Älteste und Arbeiter aller Art unterzeichneten die Petition. Zum ersten Mal wurde dem gedämpften Schrei des Volkes eine Stimme gegeben und Millionen unterzeichneten die Petition für den Frieden.
1955 Sumi Tinte, Pigment, Kleber, Kohle oder Conte auf Papier 180 × 720 cm
XI Mutter und Kind
Eltern waren gezwungen, unter umgestürzten Häusern festsitzende Kinder, verlassene Kinder, verlassene Ehemänner, verlassene Ehefrauen und Ehefrauen-Ehemänner im Stich zu lassen, alles auf hektischer Flucht vor dem Feuer. Das war zur Zeit der Atombombe Realität. Doch mitten darin wurden viele Zeuge des wundersamen Anblicks überlebender Kinder, die fest in ihren toten Müttern und Armen gehalten wurden.
1959 Sumi Tinte, Pigment, Leim, Kohle oder Conte auf Papier 180 × 720 cm
XII Schwimmende Laternen
Am 6. August füllen sich die sieben Flüsse von Hiroshima mit schwimmenden Laternen, auf denen die Namen von Vätern, Müttern und Schwestern eingraviert sind. Die Flut ändert sich, bevor die Laternen das Meer erreichen, und sie werden vom Wellengang in die Stadt zurückgefegt. Jetzt erloschen, treibt die Masse der zerknitterten Laternen in den dunklen Strömungen des Flusses. An diesem Tag flossen in der Vergangenheit dieselben Flüsse dicht mit Leichen.
1968 Sumi Tinte, Pigment, Leim, Kohle oder Conte auf Papier 180 × 720 cm
XIII Tod der amerikanischen Kriegsgefangenen
Etwa dreihunderttausend Japaner starben durch die Atombomben, die Sie abgeworfen hatten. Aber Ihre Atombomben töteten auch dreiundzwanzig Jugendliche aus Ihrem eigenen Land. Amerikaner, die vor der Bombardierung Hiroshimas bei Luftangriffen von B-29 mit dem Fallschirm abgeworfen hatten, wurden dort als Kriegsgefangene festgehalten. Einige sagten, es gäbe auch weibliche Kriegsgefangene. Wir fragten uns, wie sie aussahen, als sie starben, welche Kleidung, welche Schuhe sie trugen. Wir gingen nach Hiroshima und waren schockiert über das, was wir entdeckten. Da die amerikanischen Kriegsgefangenen in unterirdischen Unterkünften nahe der Explosionsmitte festgehalten wurden, wären sie wahrscheinlich bald gestorben. Oder vielleicht haben einige gelebt. Doch bevor ihr Schicksal bekannt werden konnte, schlachteten Japaner sie ab, erfuhren wir. Wir zitterten, als wir den Tod der amerikanischen Kriegsgefangenen malten.
[Anmerkung des Herausgebers] Juni 2019: Schätzungen zufolge belief sich die Gesamtzahl der Todesopfer durch die Atombomben bis Ende 1945 in Hiroshima auf etwa 140.000 und in Nagasaki auf etwa 74.000. Diese Schätzungen stammen jedoch aus der Zeit um 1976 oder 1977; Früher ging man davon aus, dass allein in Hiroshima mehr als 200.000 Menschen gestorben seien. Über die Zahl der Menschen, die nach 1945 durch die Auswirkungen der Bomben ums Leben kamen, gibt es noch keine genauen Zahlen. Man geht heute allgemein davon aus, dass in Hiroshima 12 amerikanische Kriegsgefangene starben, obwohl früher angenommen wurde, dass die Zahl bei 23 lag. Es wurde gemunkelt, dass einige der Kriegsgefangenen Frauen seien, was jedoch nicht bestätigt wurde. Es gibt zahlreiche Augenzeugenberichte über einen Kriegsgefangenen, der an einen Pfosten am östlichen Ende der Aioi-Brücke gefesselt war, und über Menschen, die Steine auf ihn warfen.
1971 Sumi-Tinte auf Papier 180 × 720 cm
XIV Krähen
Japaner und Koreaner sehen sich ähnlich. Wie könnte man ein gnadenlos verbranntes Gesicht von einem anderen unterscheiden? “Nach der Bombe waren die letzten Leichen, die beseitigt wurden, die Koreaner. Viele Japaner überlebten die Bombe, aber nur sehr wenige Koreaner. Wir konnten nichts tun. Krähen kamen geflogen, viele von ihnen. Die Krähen kamen und fraßen die Augäpfel der koreanischen Leichen. Sie aßen die Augäpfel.” (Aus den Schriften von Ishimure Michiko.) Koreaner wurden diskriminiert, sogar im Tod. Japaner diskriminierten, sogar Leichen. Beide waren asiatische Opfer der Bombe. Wunderschöner Chima und Chogori, flieg zurück nach Korea, in den Himmel über die Heimat. Wir bieten dieses Gemälde demütig an. Wir beten. Etwa fünftausend Koreaner starben massenhaft in Nagasaki, wohin sie als Zwangsarbeiter für die Mitsubishi-Werften gebracht worden waren. Ähnliche Geschichten gibt es über Koreaner in Hiroshima. Allein in Südkorea leben heute fast fünfzehntausend Hibakusha, ohne dass ihr Status als Überlebende einer Atombombe offiziell anerkannt wird.
[Anmerkung des Herausgebers] Juni 2019: Die Stadt Nagasaki schätzt, dass in Nagasaki zwischen 1400 und 2000 Koreaner der Bombe ausgesetzt waren. Die Gesamtzahl der außerhalb Japans lebenden Hibakusha ist nicht bekannt. Nach Angaben des Ministeriums für Gesundheit, Arbeit und Soziales wurden bis 2018 etwa 3.200 Menschen außerhalb Japans Atombombenüberlebendenzertifikate ausgestellt.
1972 Sumi-Tinte auf Papier 180 × 720 cm
XV Nagasaki
In der Sammlung des Atombombenmuseums Nagasaki
Die Zielstadt Kokura war von dichten Wolken bedeckt, und die beiden B-29 flogen weiter zum Ausweichziel, dem Hafen von Nagasaki. Auch hier war die Sicht schlecht, so dass die Atombombe auf das Mitsubishi-Stahlwerk am Rande der Stadt abgeworfen wurde. Die Bombe explodierte direkt über der katholischen Kathedrale in Urakami und tötete die Priester und diejenigen, die sich dort zum Gottesdienst versammelt hatten. Die Toten waren in endlosen konzentrischen Kreisen verstreut, mit der Kathedrale in der Mitte. Die Nagasaki-Bombe bestand aus Plutonium und war stärker als die Hiroshima-Bombe. Noch eine Atombombe. Nagasaki war am Boden zerstört. Einhundertvierzigtausend Menschen starben.
1982 Sumi Tinte, Pigment, Leim, Kohle oder Conte auf Papier 180 × 720 cm
Palästinenser in Gaza warten auf Lebensmittel-Hilfe. (Reuters)
Fassungslos verfolgen wir die inzwischen alltäglichen Schreckensmeldungen über die gnadenlose militärische „Spezieloperation“ Israels im Gaza-Streifen.
Zeitonline vermittel aktuell mit einem Drohnen-Video einen Eindruck von der „Verwüstung im Gaza-Krieg“.
Gehört das ganze darin enthaltene Leid der Menschen, die ständig steigende Zahl an Toten der Zivilbevölkerung mit Frauen und Kindern immer noch zur einst von Kanzlerin Angela Merkel als deutsche „Staatsräson“ bezeichneten Unterstützung Israels?
Vielleicht hilft dazu ein Perspektiv-Wechsel und die Darstellung der vielschichtigen Motive in der Vorgeschichte, wie sie in der folgenden Rezension erkennbar werden?
»Wir können nicht alle Helden sein, aber wir können wenigstens menschlich sein«: Margot Friedländer (5.11.1921—9.5. 2025)
Einfach und wahr
(Aus der Zeitung junge Welt vom 14. Mai 2025 wird hiermit dieser Nachruf mit Dank und Anerkennung weitergereicht.)
Zum Tod der Holocaustüberlebenden und Zeitzeugin Margot Friedländer Von Gerhard Hanloser
(Achtung: Nach dem Lesen dieses Artikels kann es passieren, dass man bedauert, dieser Persönlichkeit nicht begegnet zu sein.)
Margot Friedländer, Überlebende des Konzentrationslagers Theresienstadt, ist am Freitag im Alter von 103 Jahren in Berlin gestorben. Nachdem sie 1946 nach New York gezogen war, kehrte sie mit 88 Jahren nach Deutschland zurück – nach Berlin, wo sie 1938 die Pogromnacht miterlebt hatte. Sie kannte den Verrat und die Denunziation. Ihr Bruder wurde von der Gestapo abgeholt, im Januar 1943. Ihre Mutter folgte ihm, wollte ihn nicht alleine lassen. »Versuche, dein Leben zu machen«, ließ die Mutter Margot über Nachbarn ausrichten. Diese händigten ihr auch die Handtasche der Mutter mit deren Adressbuch und einer Bernsteinkette aus. Kleine Gesten der Unterstützung. Bis zuletzt behielt sie diese Erinnerungsstücke.
Ihr Vater, streng religiös und eher deutsch-national eingestellt, mit Eisernem Kreuz zweiter Klasse ausgezeichnet, schätzte die Gefahr, die ihnen als Juden in Deutschland drohte, falsch ein. So ging es vielen bürgerlich und national eingestellten deutschen Juden. Als die Eltern von Margot schließlich doch in die USA auswandern wollten, stellte sich der Vater quer. Überraschend reiste er ohne seine Familie nach Belgien, von dort nach Frankreich. Die Mutter war alleine mit den beiden Kindern. Erst lebten sie in Berlin-Mitte, dann ab 1941 in der Skalitzer Straße 32 in Berlin-Kreuzberg. Als mögliches Fluchtziel tat sich Shanghai auf. Da die beiden Kinder noch nicht volljährig waren, brauchte die Mutter für die Ausreise die Genehmigung des Vaters, von dem sie mittlerweile geschieden war. Er verweigerte sie brieflich. Die Nazis verhafteten ihn schließlich und deportierten ihn nach Auschwitz.
15 Monate konnte Margot, die damals noch den Nachnamen Bendheim trug, bei 16 Berlinern versteckt überleben. Sie hatte sich die Haare rot gefärbt, die Nase verändert. Jüdische Greifer, die mit der Gestapo zusammenarbeiteten, stellten sie schließlich. Bis zu ihrer Deportation nach Theresienstadt musste sie Zwangsarbeit leisten. Sie überlebte als einzige ihrer Familie, später hatte sie Schuldgefühle. Im KZ Theresienstadt traf sie Adolf Friedländer, den sie bereits von ihrer Arbeit als Kostümschneiderin beim Jüdischen Kulturbund kannte. Gemeinsam überlebten sie den Holocaust, heirateten und reisten 1946 per Schiff nach New York, wo sie die Staatsbürgerschaft der Vereinigten Staaten annahmen.
Ihre Geschichte erzählte Margot Friedländer leise, doch mit großer Präzision. Sie besuchte bis vor kurzem noch Schulklassen und blieb den Schülern dort, vom desinteressiertesten bis zum strebsamsten, in lebhafter Erinnerung. Auch den Lehrern ging es so, vom linken über die obligatorisch grün-liberalen und sozialdemokratischen bis zum konservativen Kollegen. Bei einem Zeitzeugengespräch in einer Neuköllner Schule im Februar 2023 riss man ihr ihre Autobiographie, die sie unter Mithilfe der Schriftstellerin Malin Schwerdtfeger geschrieben und 2008 veröffentlicht hatte, förmlich aus der Hand, jeder wollte ein Selfie machen. Sie sagte: »Ich bin fix und fertig, ich werde alt« – war aber hochzufrieden, glücklich und von der Resonanz bewegt.
Friedländer kam als Anwältin der Menschlichkeit. Sie, die ihren Vater, die Mutter und ihren Bruder in Auschwitz verloren hatte, zog universalistische Lehren aus den Naziverbrechen. »Menschen müssen respektiert werden – ganz egal, welche Religion sie haben«, sagte sie im November 2023 dem WDR. Ihre Botschaft war einfach und wahr: »Wir sind alle gleich! Seid Menschen! Respektiert Menschen!« Besonderes pädagogisches Geschick zeigte sie darin, dass sie neue Generationen zwar zum Handeln herausforderte, aber nie überforderte: »Wir können nicht alle Helden sein, aber wir können wenigstens menschlich sein« – was menschenrechtlich bewegte junge Menschen in besonderer Weise ansprach. Mit Nachdruck betonte sie, dass diejenigen, die direkt Zeugnis über die Nazizeit ablegen können, aussterben. Die jungen Menschen, die sie stets liebevoll betrachtete, müssten nun die Zeitzeugen werden.
Politischer Instrumentalisierung jeder Art entzog sich Friedländer. Als Mahnerin eines politisch interessierten »Nie wieder ist jetzt!« wollte sie nicht benutzt werden. Als Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu die Hamas als »die neuen Nazis« bezeichnete, widersprach Friedländer. Sie erklärte, der Holocaust und ihre Erlebnisse seien ihr immer präsent. Die Massaker der Hamas und anderer Gruppen am 7. Oktober 2023 kommentierte sie: »Ich werde die Sache nicht los, als ob es gestern wäre. Und natürlich sehe ich nach diesen Morden die Bilder von damals wieder vor mir.« Doch betonte sie, dass wir in anderen Zeiten leben und solche Gleichsetzungen wenig sinnvoll sind.
Im Sommer 2023 gründete sie noch die Margot-Friedländer-Stiftung, die ihr Lebenswerk fortführen soll. Die Stiftung wird auch den Margot-Friedländer-Preis verleihen, der Initiativen von Schülern und Eltern auszeichnet, die sich beispielhaft für Demokratie, Menschlichkeit, Toleranz und die Zukunft der Erinnerung einsetzen.