Mehr als ein Nachruf

„Unermüdlich kämpfte sie gegen Rassismus, Ausgrenzung, Hass. Und je älter Margot Friedländer wurde, desto wichtiger wurde sie für dieses Land.“ So hat Christoph Amend seinen Nachruf auf Zeit Online für jene Überlebende des KZ Theresienstadt eingeleitet, die nach ihrer Befreiung zwar zunächst nach Amerika emigrierte, aber wieder nach Deutschland kam, um mit Ausdauer und Menschlichkeit nicht nur in Schulen als Zeitzeugin zu wirken. Bewunderung und Dankbarkeit finden sich in allen erreichbaren Nachrufen.

Auf Zeit Online gefunden und mit Dank weitergereicht:

Tod von Margot Friedländer: Sie war so sehr Mensch

In ihren letzten Lebensjahren gewann Margot Friedländer als Botschafterin für die Menschlichkeit überlebensgroße Bedeutung. Eine Erinnerung

Von Götz Hamann

10. Mai 2025, 16:13 Uhr 96 Kommentare

Die fünfstöckige Torte, vor der Margot Friedländer an ihrem 102. Geburtstag stand, war fast halb so groß wie die zierliche Frau. Wie immer hatte sie in eine repräsentative Privatvilla geladen, die nicht ihre eigene war, die Gäste waren in der großzügigen Küche zusammengekommen. Die Torte, ein erbackenes Kunstwerk von Martin Werthmann, stand auf der Kochinsel, und als alle Kerzen angezündet waren, begannen die Gäste Viel Glück und viel Segen zu singen. Friedländer, in der Mitte stehend, das Gesicht auf Höhe der Kerzen, war hell erleuchtet. Sie lächelte. Neben ihr stand der Bundespräsident, Frank-Walter Steinmeier, und nachdem das Lied zu Ende war, alle applaudiert und gejubelt hatten, bliesen die beiden gemeinsam die Kerzen aus. Also sie versuchten es. Denn es waren 102 Kerzen, die auf dem Tortenplateau wie ein dichter Wald zusammenstanden. Schließlich schafften sie es doch.

Dieser Moment ist wie eine Metapher für das, was Margot Friedländer für viele Menschen in Deutschland war. Ein Mittelpunkt. Ein Licht. Wie viele Leben in Berlin und in ganz Deutschland hat sie in den vergangenen zwei Jahrzehnten wohl bereichert? Seitdem sie, nach mehr als sechs Jahrzehnten in New York, 88-jährig in ihre Heimat Berlin zurückgekehrt war. Als ich sie vor zwei Jahren besuchte, holte Margot Friedländer irgendwann einen großen Stapel Kalender aus einer Schublade, sie legte sich die Bücher auf den Schoß, begann zu blättern. Auf den Seiten war notiert, wo sie überall schon gesprochen hatte und aufgetreten war, in wie vielen Schulen Margot Friedländer ihre Geschichte erzählt hatte. Ihre Geschichte, wie sie sich als deutsche Jüdin vor den Nationalsozialisten verstecken musste, wie sie später im Konzentrationslager Theresienstadt überlebte – und wie sie gerettet wurde. Als einzige ihrer direkten Familie überlebte Friedländer die Schoah.

Tod von Margot Friedländer: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gratuliert Friedländer im November 2023 nachträglich zu ihrem 102. Geburtstag.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gratuliert Friedländer im November 2023 nachträglich zu ihrem 102. Geburtstag. © Bernd von Jutrczenka/​dpa

Botschafterin der Herzensbildung

Ihr Überleben sollte einen Sinn haben, entschied Friedländer. Sie wollte Kinder und Jugendliche für ihre Botschaft gewinnen, menschlich zu handeln, damit so etwas wie während der Gewaltherrschaft der Nazis nie wieder geschehen kann: der Mord an sechs Millionen Juden und vielen anderen mehr, die Friedländer nie zu erwähnen vergaß. Sie war eine Botschafterin der Herzensbildung. Der Historiker Michael Wolffsohn hat kürzlich gesagt, für Herzensbildung brauche es kein Wissen, brauche es keinen Universitätsabschluss. Herzensbildung setze früher ein. Margot Friedländer hat genau das getan: Sie hat zur Herzensbildung von vielen Hunderttausend Deutschen beigetragen.

ÖPNV-Nachricht aus dem Autoland

ÖPNV-„Hilferuf“: Bundesländer wollen mehr Geld vom Bund | BR24

„Pars pro toto“ sagten die klassischen Römer wenn sie feststellten, dass man in einem Teil das Typische eines Ganzen erkennen könne. So wie hierbei, warum Busse in ländlichen Städten und Regionen so wenig genutzt werden.

Eigentlich ist es nichts Ungewöhnliches: Bei knapp 50 Millionen PKW auf Deutschlands Straßen gibt es öfter mal Pannen und dann wird ein Abschleppdienst gebraucht. Wenn es sich um die Familienkutsche handelt muss sie wenn möglich repariert werden und steht eine Weile nicht wie gewohnt zum privaten Individualverkehr zur Verfügung für die alltäglichen Besorgungen.

Kürzlich traf es uns. Kupplung kaputt. Am nächsten Tag hatte ich einen Routine-Termin beim Physiotherapeuten. Bisher dauerte es mit dem Auto dorthin höchstens eine Viertelstunde. Da könnte ich ja endlich mal auch den Örtlichen Personennahverkehr (ÖPNV) nutzen, dachte ich. Denn etwa 120 Meter von unserer Wohnung haben wir eine Bushaltestelle für den Stadtbus!

Als wir vor vier Jahren unseren Wohnsitz nach Korbach verlegten, bekamen wir bei der Ummeldung mit einigen anderen hilfreichen Unterlagen auch einen Fahrplan für die städtischen Buslinien. Da der aber leider, also natürlich nicht zu finden ist, erkundigte ich mich telefonisch im Rathaus nach einer passenden Verbindung.

Die freundliche Dame vom Bürgerbüro vermittelte mich an einen Herrn, der mir erklärte, dass die Stadt derzeit nur zwei Busse auf den vorgesehenen Linien fahren habe, die beide das Ziel Hauptbahnhof haben, wo man in den Bus einer anderen Linie umsteigen könne. Manchmal sei das dann auch derselbe Bus, der nur die Nummerierung gewechselt habe. In meinem Fall wäre das dann die Linie 5, die dann aber durch das Gewerbegebiet und schließlich an der Haltestelle meines Zieles vorbei führe.

Auf die Frage, wieviel Zeit ich dafür brauche, antwortete er: „Dann müssen Sie etwa mit einer Stunde Fahrtzeit rechnen.“

Zum Glück fand ich an dem Tag in der Verwandtschaft jemanden mit Auto und etwas Zeit.

Der etwas verspätete Künstler-Sohn

Aus Opas unordentlichem Leben (1)

Auch eine Binsenweisheit kann man ruhig mal wiederholen: Jeder Mensch ist einzigartig, mithin etwas Besonderes. Darin sind sich inzwischen Psychologen, Genetiker und Anthropologen einig. Folglich sind ja auch im Grunde alle möglichen Verallgemeinerungen falsch. So etwa auch die: Vor allem junge Mütter sind überzeugt, ihr Kind sei ein besonderes.

Ein besonderes Kind wäre es schon, wenn es sozusagen eine Eigenschaft besitze, die – objektiv – nur ein Siebtel der Menschheit haben könne: Wenn es nämlich an einem Sonntag Geburtstag hat. So ein Sonntagkind habe voraussichtlich im Leben viel Glück und unbewusste Vorteile gegenüber den anderen sechs Siebteln.

Mit Bedauern in der Stimme aber leicht schmunzelnd erzählte mir meine Mutter eines Tages, als sie schon keine Schauspielerin mehr und ich noch ein Jüngling war, leider sei ich wegen zehn Minuten Verspätung kein Sonntagskind mehr geworden. Ob sich vielleicht dahinter ein Mythos verbirgt, ein letztlich negativer gar, der sich zur Erklärung so mancher seltsamen oder auch merkwürdigen Erlebnisse eignet? Denn nun bin ich also mein ganzes Leben lang ein Montagskind. Quasi wie ein Montagsauto. Die waren mal eine Zeit lang berüchtigt, hatten angeblich ständig irgendwelche Macken, weil die Arbeiter im Werk noch nicht richtig ausgeschlafen waren, liefen aber sonst sehr zuverlässig.

Im Nachhinein habe ich mal nachgesehen: https://de.wikipedia.org/wiki/Sonntagskind

Trotz alledem

Während mittels auch deutscher Waffenlieferungen gerade Kriege geführt und somit täglich zahllose Menschen getötet werden, finden sich hierzulande junge Menschen für eine wichtige Hilfe zur Rettung vor einem qualvollen Tod:

https://wildungen-digital.de/2024/10/30/dkms-gsg-dein-typ-ist-gefragt/

Ob den Schülerinnen und Schülern Zweifel am gut gemeinten Tun gekommen sind?

Nach dem Urlaub

Eine verschmitzte, nicht ganz unpolitische Betrachtung.

Zum Bild: Der Strand bei Bansin, Usedom © Julius Schrank für ZEIT ONLINE

Kennen Sie den? Treffen sich am Persischen Golf zwei befreundete Scheichs. Sagt der eine: „Mensch, ich hab dich aber lange nicht gesehen!“ Antwortet der andere: „Ich war ja auch im Urlaub.“ Erstaunt reagiert der Frager: „Wo bist Du denn gewesen?“ – „In den Niederlanden“ antwortet der andere. – „Und wie war’s?“ – „Einfach fantastisch!“ – „Was kann denn in den Niederlanden fantastisch sein?!“ – „Stell dir vor: vierzehn Tage Regen!“

Zugegeben – der Witz ist schon etwas angestaubt, zeigt aber doch, wie unterschiedlich Urlaubserfahrungen sein können. Damals war Klimawandel überhaupt noch kein öffentliches Thema, und arabische Scheichs waren in Europa vor allem als Lieferanten möglichst billigen Erdöls oder als spendable Investoren willkommen.

Und kennen Sie das? Kollegen oder auch Kolleginnen, Zufallsbekanntschaften oder Nachbarn begrüßen Sie mit der Frage „Na, wie war der Urlaub?“ Da stellt sich erst mal sofort die Frage, warum die das fragen. Wollen die das wirklich wissen? Den großen Stress, etwa mit den Kindern oder am Airport-Check-in, die kleinen Freuden, die Überraschungen, die Enttäuschungen? Unter Familien-Anwälten ist bekannt, dass sich Scheidungsanträge ausgerechnet nach Sommerurlauben (und Weihnachtsferien) besonders häufen!

Was also soll oder kann man antworten? Vielleicht bleibt noch das neutrale Thema Wetter. Das aber ist in diesem Sommer in fast ganz Europa eigentlich insgesamt zu schön. Oder: „In Irland schien immer die Sonne zwischen zwei Regenschauern.“ Das wäre mal was anderes. Nun, da man die Fotos sortiert und archiviert hat, geht auch: „Inzwischen habe ich mich vom Urlaub erholt.“ Damit kann man mit einem kurzen, gemeinsamen Lachen den Alltag ganz passabel finden.

Anmerkung zum Foto: Von Heinrich Böll soll der Satz stammen „Der Tourist zerstört das, was er sucht, indem er es findet“.

Ihr Urlaubsgeschenk wartet auf Sie!

Diese verheißungsvolle Ankündigung stand gestern in Betreff der bei mir eingetroffenen Mails und kam um 20:17 Uhr von der Süddeutschen Zeitung. Seit ich denken kann stehen Geschenke, besonders zum Geburtstag oder zu Weihnachten, bei mir hoch im Kurs. Damals zum Beispiel das Päckchen aus Dresden öffnen, dabei die Kordel nicht durchschneiden, weil sie ja nochmal verwendet werden kann, sodann die Öffnung des oben liegenden Briefumschlags, die Entzifferung des in Sütterlin geschriebenen herzlichen Briefes der Oma, nun endlich ran an die Überraschung: das Auspacken des Christstollens! Inzwischen schenke ich mir natürlich den Dresdener Christstollen selber. Damals war er für mich kostenlos. Geschenk eben!

Klopfen wir doch mal die Bedeutung des Wortes ab! Bei Wikipedia heißt es kurz und knapp: Ein Geschenk ist die freiwillige Eigentumsübertragung einer Sache oder eines Rechts an den Beschenkten ohne Gegenleistung – also unmittelbar zunächst kostenlos für den Empfänger. Im übertragenen Sinne kann man auch jemandem seine Aufmerksamkeit, sein Vertrauen oder seine Liebe schenken. Aha – also ohne Gegenleistung!

Und welches Geschenk der SZ für den Urlaub wartet angeblich auf mich? Weil ich ja weiß, dass es sich um ein kränkelndes, um Leser kämpfendes bildungsbürgerliches Blatt handelt, bin ich ziemlich skeptisch, zumal ich vor vier Tagen schon von meiner Urlaubsreise zurück gekommen bin. Also mache ich die Mail auf und lese da:

„Lieber Herr Zimmermann, egal, ob Sie in den Süden reisen oder es sich auf Balkonien gemütlich machen – SZ Plus begleitet Sie in den nächsten 6 Monaten überallhin.“

Da haben sich die Werbetexter und -psychologen aber richtig vergaloppiert. Wie viel tausend Empfänger sollen sich von diesem Satz angesprochen fühlen? Einerseits bin ich wirklich nicht lieb. Denn hinter SZ Plus verbergen sich stets ausführlichere Beiträge und Kommentare, auf die ich bislang wegen der Bezahlschranke verzichtete. Andererseits bin ich im Urlaub nicht in den Süden sondern in den Norden, nämlich an die Ostseeküste gereist. Das ist doch nicht „Balkonien“ und schon lange nicht „egal“!

Dass dieses „Sommer-Spezial“ genannte Lockvogel-Angebot (für „nur 49 €“) auch noch für 6 Monate gelten soll, zeugt von einer geradezu bizarren Ignoranz. Denn welcher Sommer dauert ein halbes Jahr?

Ach ja: Was soll nun das Urlaubsgeschenk sein? Erst wenn man dieses 6 Monate dauernde „Sommer-Spezial“ bestellt und sich damit seine „SZ – Plus-Lektüre“ bestellt hat, bekommt zum Abo ein Geschenk:

Die gedruckte SZ Langstrecke bündelt die besten Lesestücke aus drei Monaten SZ

Sorgfältig von der Redaktion kuratiert

Im Wert von 9,50 € inkl. gratis Versand zu Ihnen nach Hause

Dann muss der Urlaub alles in allem total verregnet und jedes Museum verschlossen sein. Wer wünscht sich so einen Urlaub mit einem solchen Geschenk, für das ja erst das Halbjahres-Abo für „nur 49“ € nötig ist.

Um die Abonnentenzahl zu steigern wird mit dem Wort „Geschenk“ gelockt, das braucht es aber zuvor eine Gegenleistung. Die bildungsbürgerlichen Werber – am besten auch die verantwortlichen Redakteure – sollten sich nicht wundern, wenn an dieser Stelle an Bauernfängerei erinnert wird:

Bauernfängerei bezeichnet einen plumpen Betrug. Das Wort ist eine Ableitung von Bauernfänger und stammt aus der Berliner Gaunersprache. Bauern waren ursprünglich Leute, die aus dem Umland nach Berlin reisten und dort Opfer von Betrügern wurden; mit fangen war „überlisten“ gemeint. Wikipedia (DE)

Die Entfernung

Auf manche frühen Fragen gibt es ein ganzes Leben lang keine richtige Antwort. So wie diese: „Was hast Du denn für eine Beziehung zu Deiner Mutter?“

Mein Gott! Da war ich nun in meinem jugendlichen Leichtsinn endlich mit Dagmar allein. Was sollte ich ihr antworten?

Ende Januar wehte ein milder Wind, so dass wir keine Handschuhe mitgenommen hatten. Unsere Jacken konnten wir offen lassen, ihr langes blondes Haar wurde leicht um das rundliche Gesicht gezaust. Mein Puls war sofort wieder normal.

Verlegen wanderte mein Blick über die sanften Rundungen der Hügel und Berge, die noch grauen Waldränder und bräunlichen Wiesen, die verstreuten Schneereste in den kleinen Mulden und an den lang gezogenen Feldrainen, hinunter ins Tal mit dem Dorf Imshausen, dann wieder zurück zu ihr.

Ich war echt stolz, dieses im vorigen Sommer angekommene Mädchen mit der aufregenden Figur an jenem Sonntagnachmittag für den Spaziergang zu zweit überredet zu haben. Richtig verwegen kam ich mir vor, denn die anderen saßen alle im Haus und probten oder betrieben sonst irgendwelche Vorbereitungen für das Faschingstreiben in der nächsten Woche. Meine ganze Leichtigkeit und Überschwänglichkeit war plötzlich weg. So eine schwere Frage. Ich hatte mir doch noch nie darüber Gedanken gemacht!

Klar, die Frage war jetzt eigentlich dran. Hatte Dagmar mir doch eben erzählt, dass sie deswegen in das Kinderhaus gekommen war, weil ihre Mutter sie allein versorgen musste und sie selbst ihre freie Zeit zu hemmungslosen Herumtreibereien genutzt hatte. Mit ihren fünfzehn Jahren konnte sie schon von einem abenteuerlichen Leben in einer großen Stadt berichten. Aber sie sehnte sich wieder zu ihrer Mutter. Und ich? Was sollte ich antworten?

Ein-, zweimal besuchte mich Mutti im Jahr, seit ich mit zehn hier war. Ab und zu ein Brief, ein Päckchen, wofür ich mich mit einem Brief bedanken musste. Und nun war ich schon sechzehn. Mein zweites Lehrjahr als Schreiner hatte ich bald geschafft, ich arbeitete schon wie ein Mann und fühlte mich genauso. Was ging mich meine Mutter an? Was hatte ich mit ihr zu tun?

Vielleicht waren seit der Frage drei oder vier Herzschläge vergangen. Sie blieb stehen und sah mir in die Augen. Eher grün als blau waren sie, unausweichlich prüfend. Ihre Lippen, von denen ich heute sagen kann, dass sie „sinnlich“, aber nicht unbedingt „voll“ waren, verzogen sich zu einem Lächeln aus Ermutigung und Nachsicht. Als sie schließlich ihre rechte Augenbraue etwas hob und leicht spöttisch die Mundwinkel verzog, entschloss ich mich endlich zu einer Antwort, der ich selbst mit einiger Verwunderung zuhörte: „Deutschland ist groß und meine Mutter ist weit.“

Das muss ziemlich pathetisch geklungen haben, und bestimmt habe ich den Satz mit einer recht großspurigen Armbewegung unterstrichen. Woher kam mir diese Antwort? Einige Wochen zuvor hatte Tante Vera, wie wir die Hausherrin des Kinderhauses Imshausen nannten, beim Mittagessen nach und nach eine Erzählung aus dem Russland des Ersten Weltkrieges vorgelesen, in dem jemand die Meinung der einfachen Leute über ihr Verhältnis zum Zaren mit den Worten gekennzeichnet hatte: „Russland ist groß und Väterchen Zar ist weit.“ Das schien mir eine treffende Beschreibung für meine Beziehung zur Mutter zu sein.

„Das hört sich aber sehr unfreundlich an. Sie ist doch immerhin Deine Mutter. Wer so über seine Mutter redet, zeigt einen schlechten Charakter. Ich möchte keinen Freund, der einen schlechten Charakter hat.“

Sie muss eine ziemlich genaue Vorstellung davon gehabt haben, was ein guter oder ein schlechter Charakter ist und wie ein Sohn zu seiner Mutter zu stehen hat. Offensichtlich passte das, was ich gerade über meine Beziehung zu meiner Mutter gesagt hatte, nicht zu ihrer Vorstellung von einem netten Menschen. Jedenfalls haben wir an jenem Nachmittag eine Wette abgeschlossen, ob es mir gelingen würde, im Laufe der nächsten fünf Jahre meinen Charakter zu bessern.

Bestimmt habe ich diese Wette vor allem deswegen angeboten, um einen vertretbaren Grund zu haben, sie dann wieder zu sehen. Damit wir dann auch beide frei hätten, haben wir uns für den 1. Mai 1962 verabredet, der ja bestimmt ein Feiertag ist. Wir wussten ja beide, dass sich unsere Wege ziemlich bald wieder trennen würden. Wo sollten wir uns also in fünf Jahren treffen, um die Wette zu überprüfen?

Nun, Dagmar war aus Mühlheim am Main, in der Nähe Frankfurts, wo sie sich auskannte, und schlug deswegen vor, wir sollten uns dann nachmittags um drei in Frankfurt am Café Kranzler treffen.

Es wurde doch rasch ziemlich kalt. Ich jedenfalls hatte noch keine großartigen Kenntnisse im Schmusen, obwohl Dagmar eine rücksichtsvolle Lehrerin war. Küssen war für mich damals noch das Größte. Aber dabei habe ich mich bestimmt noch sehr ungeschickt angestellt. Irgendwie war mir diese feuchte Schmatzerei unangenehm und aufregend zugleich.

Als wir zum Haus zurückgekehrt waren und ich auf meinem Zimmer die Wette mit Rotstift in meinem Taschenkalender „heijo“ eingetragen hatte, schrieb sie mit Füller hinter „Café Kranzler“: „falls es nicht mehr besteht, Café Rumpelmayer.“ Ihre Handschrift war viel schöner als meine. Dies ist mein Kalendereintrag drei Wochen danach:

Natürlich nutzten wir stets jede Gelegenheit uns zu treffen. Täglich. Wir wurden immer verwegener, aber auch leichtsinniger. Wie kann man so viel junge Vertrautheit noch steigern? Es wurde ja noch ziemlich früh dunkel und nach dem Abendessen gab es immer einen zeitlichen Spielraum. Um halb sieben in der Halle mit allen Kindern, die älter als zehn Jahre waren, und den dazugehörenden Betreuern, vielleicht fünfundzwanzig Personen. Wir beide saßen natürlich nicht nebeneinander, aber wir hatten uns so gesetzt, dass sich unsere Blicke immer wieder trafen. Von einigen Anwesenden wurden wir wieder mal auch in dem allgemeinen Palaver fortwährend kritisch beobachtet. Jeder schien zu wissen, dass wir ineinander verknallt waren.

Eigentlich passten wir ja in keine der Kindergruppen mehr hinein. Wegen meiner Lehre im sieben Kilometer entfernten Bebra war ich noch nicht zu meiner Mutter gekommen, die zusammen mit meinem Stiefvater bei einer Handpuppenbühne gespielt hatte und darum bis vor ein paar Monaten dauernd in ganz Westdeutschland unterwegs war.

Peter, der etwa zehn Jahre älter war als ich und immer viel organisierte, verkündete nach dem Essen, dass alle schulpflichtigen Kinder um halb acht auf ihre Zimmer und um acht ins Bett zu gehen hätten. „Ältere können länger aufbleiben, wenn sie an der Messe teilnehmen wollen.“ Die einzigen, die dafür in Frage kamen, waren Dagmar und ich. Wir hatten ja noch so viel miteinander zu reden. Die lutherische Messe, die hier donnerstags und sonntags gehalten wurde, begann um acht, heutzutage: um 20 Uhr. Also hätten wir noch eine Stunde für uns. Wir halfen alle beim Abräumen und trugen Geschirr oder Besteck in die Küche. Auf dem Flur begegneten wir uns wie unabsichtlich. Dagmar sah mir fragend in die Augen und ich raunte im Vorbeigehen nur: „Beeil‘ Dich! In zehn Minuten.“

Natürlich hatten wir im nahen Park einen festen Treffpunkt, der auch heute noch zu dem Haus gehört, das im Frühklassizismus als adliger Landsitz mit Gutshof und mehreren Wirtschaftsgebäuden gebaut worden war.

Ich ging schnell zu Peter und sagte ihm, dass ich an der Messe teilnehmen wolle. Er hob die buschigen Augenbrauen und erwiderte: „Sei aber ja pünktlich, sonst hat das Konsequenzen!“

Was können das schon für Konsequenzen sein, dachte ich, stürmte auf mein Zimmer im Thinghaus, wie das eineinhalbgeschossige Wohnhaus der zehn- bis 14-jährigen Jungen genannt wurde, zog mir schnell warme Sachen über. Da es damals kaum noch Thing-Jungen gab, schlief ich hier alleine, wo sonst acht untergebracht waren. Damit mich keiner beobachten konnte, rannte ich hinter dem Thing-Häuschen den Weg zur Straße und von dort in den Park, unter den uralten Nussbäumen durch, sprang mit einem Satz über den Bach, lief an den Büschen entlang zur Rotbuche. Wer sie heute in dem Park suchen will, findet sie nicht, weil sie inzwischen altersschwach abgehauen wurde.

Dagmar war noch nicht da. Völlig außer Atem war ich und deswegen ganz froh, etwas verschnaufen zu können. Der riesige Baum streckte mir seine jetzt blattlosen Äste wie immer in Reichweite herunter. Wie oft hatte ich mit den anderen Thing-Jungen, von denen jetzt keiner mehr da war, auf diesen unendlich vielen Ästen Kriegen gespielt, hatte dabei meine Ängste überwinden und die Schwindelfreiheit gelernt! Die Mutigsten unter uns trauten sich bis in die oberste Spitze. Waren das zwanzig oder fünfundzwanzig Meter? Abgestürzt ist nie einer. Wenn ich mal abrutschte, fing mich der nächste Ast darunter auf. Er federte etwas, einige Rippen spürte ich auf dann sehr schmerzhaft, aber ich hatte noch Zeit genug, mich an ihm festzuhalten. Oder hielt er mich fest? Mein Vertrauen in den Baum war fast grenzenlos, und auch jetzt fühlte ich mich wieder einmal unter ihm geborgen, obwohl der kalte Sternenhimmel und einige blasse, vom Mond beschienene Wolken durch die kahlen Äste zu sehen waren. Ein paar Meter weiter bergauf stand der bestimmt genauso hohe Birnbaum, dessen oberste Früchte ich dank meiner Schwindelfreiheit oftmals als einziger pflücken und genießen konnte. So herzhaft schmeckende Birnen habe ich seitdem nicht mehr gegessen.

Nach einer kleinen Unendlichkeit kam sie. Wie viele unwiederbringliche Minuten waren nutzlos vergangen? Zuerst ein verschwommener Schatten, dann immer deutlicher eilte sie mir in die Arme.

Es sollte sich noch an diesem Märzabend herausstellen, dass dies die letzte halbe Stunde für uns beide war. Fünf Jahre später, am ersten Mai vor dem Café Kranzler, waren wir zwangsläufig keine Verliebten mehr, bestenfalls einstige Freunde füreinander und absolvierten verwundert eine nostalgische, selbstauferlegte Verpflichtung.

Dagmar wollte am 1. Mai 1962 nicht fotografiert werden, aber etwas ungeübt knipste ich sie aus der Hüfte.

Das Tolle war ja, dass wir bis dahin regelmäßig in Brief-Kontakt geblieben waren. Inzwischen lebte ich zunächst bei meiner Mutter in Idar-Oberstein, machte meine Gesellenprüfung, zog kurz nach der Taufe meiner Schwester nach Marburg wo ich erst als Schreiner arbeitete, hatte im Januar meinen Führerschein gemacht und besuchte gerade einen VHS-Abendkurs, um das Externen-Abitur zu machen. Anfangs wirkte erst mal mein Freund Richard, der nach meiner Entfernung aus Imshausen noch über ein Jahr länger dort war, wie ein geheimer Relais-Briefkasten, um den von Frau Vera verbotenen Briefwechsel zu bewerkstelligen, bis auch Dagmar weggezogen war und mir ihre Anschrift schreiben konnte. Natürlich war sie mittlerweile – im Gegensatz zu mir – in einer festen Beziehung mit Heiratsperspektive. Unsere damalige Wette, der zufolge ich in fünf Jahren meinen Charakter und meine Beziehung zur Mutter bessern könnte, war ja illusorisch. Wie hätte ich eine solche Besserung beweisen können? Die war beidseitig lebenslang höchstens bemüht. Leider.

Für 2024: Ein Frohes Neues!

Und viel Glück …

„Gute Party heute!“ schrieb mir mein jüngster Bruder heute auf WhatsApp. Nun bin ich ziemlich genau 20 Jahre älter als er und also aus dem Alter raus, in dem man noch verpflichtet ist, eine Silvester-Party zu veranstalten. Irgendwie ist es ja auch – wenn wir ehrlich sind – im Grunde stets dasselbe Spiel. Hatte doch einst die feudale Obrigkeit den ersten Tag des neuen Jahres angeblich deswegen arbeitsfrei gegeben, damit das gemeine Volk seinen Rausch vom Vortag ausschlafen und sich die neue Jahreszahl dann besser merken kann.

Horoskope haben wieder Hochkonjunktur. Dazu meinte schon Erich Kästner:

„Wird’s besser, wird’s schlechter?“ fragen wir jährlich. Sei’n wir doch ehrlich: Leben ist immer lebensgefährlich!

Nicht nur der private Blick in die Zukunft sucht im Nebel. Auch der politische. Wieder einmal versuchte sich am Silvester-Abend ein Bundeskanzler in seiner Silvesteransprache mit Erfolgen zu profilieren – und verfängt sich dabei in einer Schlinge seiner eigenen Propagandaabteilung wenn er behauptet, im vergangen Jahr hätten die Deutschen die von Russland verursachte Gaskrise gut überstanden – von Russland verursacht? Allein so eine Aussage kennzeichnet diesen Kanzler des Gedächtnisverlusts!

Wer hat denn direkt nach Beginn des russischen Einmarschs in die Ukraine die Sanktionen gegen Gasprom verhängt und wer klaglos die Sprengung der Gas-Pipelines in der Ostsee hingenommen? Kein Wunder, dass so jemand vergeblich um Glaubwürdigkeit kämpft! Sicher auch im neuen Jahr.

Na, dann prost allerseits!