Die Entfernung

Auf manche frühen Fragen gibt es ein ganzes Leben lang keine richtige Antwort. So wie diese: „Was hast Du denn für eine Beziehung zu Deiner Mutter?“

Mein Gott! Da war ich nun in meinem jugendlichen Leichtsinn endlich mit Dagmar allein. Was sollte ich ihr antworten?

Ende Januar wehte ein milder Wind, so dass wir keine Handschuhe mitgenommen hatten. Unsere Jacken konnten wir offen lassen, ihr langes blondes Haar wurde leicht um das rundliche Gesicht gezaust. Mein Puls war sofort wieder normal.

Verlegen wanderte mein Blick über die sanften Rundungen der Hügel und Berge, die noch grauen Waldränder und bräunlichen Wiesen, die verstreuten Schneereste in den kleinen Mulden und an den lang gezogenen Feldrainen, hinunter ins Tal mit dem Dorf Imshausen, dann wieder zurück zu ihr.

Ich war echt stolz, dieses im vorigen Sommer angekommene Mädchen mit der aufregenden Figur an jenem Sonntagnachmittag für den Spaziergang zu zweit überredet zu haben. Richtig verwegen kam ich mir vor, denn die anderen saßen alle im Haus und probten oder betrieben sonst irgendwelche Vorbereitungen für das Faschingstreiben in der nächsten Woche. Meine ganze Leichtigkeit und Überschwänglichkeit war plötzlich weg. So eine schwere Frage. Ich hatte mir doch noch nie darüber Gedanken gemacht!

Klar, die Frage war jetzt eigentlich dran. Hatte Dagmar mir doch eben erzählt, dass sie deswegen in das Kinderhaus gekommen war, weil ihre Mutter sie allein versorgen musste und sie selbst ihre freie Zeit zu hemmungslosen Herumtreibereien genutzt hatte. Mit ihren fünfzehn Jahren konnte sie schon von einem abenteuerlichen Leben in einer großen Stadt berichten. Aber sie sehnte sich wieder zu ihrer Mutter. Und ich? Was sollte ich antworten?

Ein-, zweimal besuchte mich Mutti im Jahr, seit ich mit zehn hier war. Ab und zu ein Brief, ein Päckchen, wofür ich mich mit einem Brief bedanken musste. Und nun war ich schon sechzehn. Mein zweites Lehrjahr als Schreiner hatte ich bald geschafft, ich arbeitete schon wie ein Mann und fühlte mich genauso. Was ging mich meine Mutter an? Was hatte ich mit ihr zu tun?

Vielleicht waren seit der Frage drei oder vier Herzschläge vergangen. Sie blieb stehen und sah mir in die Augen. Eher grün als blau waren sie, unausweichlich prüfend. Ihre Lippen, von denen ich heute sagen kann, dass sie „sinnlich“, aber nicht unbedingt „voll“ waren, verzogen sich zu einem Lächeln aus Ermutigung und Nachsicht. Als sie schließlich ihre rechte Augenbraue etwas hob und leicht spöttisch die Mundwinkel verzog, entschloss ich mich endlich zu einer Antwort, der ich selbst mit einiger Verwunderung zuhörte: „Deutschland ist groß und meine Mutter ist weit.“

Das muss ziemlich pathetisch geklungen haben, und bestimmt habe ich den Satz mit einer recht großspurigen Armbewegung unterstrichen. Woher kam mir diese Antwort? Einige Wochen zuvor hatte Tante Vera, wie wir die Hausherrin des Kinderhauses Imshausen nannten, beim Mittagessen nach und nach eine Erzählung aus dem Russland des Ersten Weltkrieges vorgelesen, in dem jemand die Meinung der einfachen Leute über ihr Verhältnis zum Zaren mit den Worten gekennzeichnet hatte: „Russland ist groß und Väterchen Zar ist weit.“ Das schien mir eine treffende Beschreibung für meine Beziehung zur Mutter zu sein.

„Das hört sich aber sehr unfreundlich an. Sie ist doch immerhin Deine Mutter. Wer so über seine Mutter redet, zeigt einen schlechten Charakter. Ich möchte keinen Freund, der einen schlechten Charakter hat.“

Sie muss eine ziemlich genaue Vorstellung davon gehabt haben, was ein guter oder ein schlechter Charakter ist und wie ein Sohn zu seiner Mutter zu stehen hat. Offensichtlich passte das, was ich gerade über meine Beziehung zu meiner Mutter gesagt hatte, nicht zu ihrer Vorstellung von einem netten Menschen. Jedenfalls haben wir an jenem Nachmittag eine Wette abgeschlossen, ob es mir gelingen würde, im Laufe der nächsten fünf Jahre meinen Charakter zu bessern.

Bestimmt habe ich diese Wette vor allem deswegen angeboten, um einen vertretbaren Grund zu haben, sie dann wieder zu sehen. Damit wir dann auch beide frei hätten, haben wir uns für den 1. Mai 1962 verabredet, der ja bestimmt ein Feiertag ist. Wir wussten ja beide, dass sich unsere Wege ziemlich bald wieder trennen würden. Wo sollten wir uns also in fünf Jahren treffen, um die Wette zu überprüfen?

Nun, Dagmar war aus Mühlheim am Main, in der Nähe Frankfurts, wo sie sich auskannte, und schlug deswegen vor, wir sollten uns dann nachmittags um drei in Frankfurt am Café Kranzler treffen.

Es wurde doch rasch ziemlich kalt. Ich jedenfalls hatte noch keine großartigen Kenntnisse im Schmusen, obwohl Dagmar eine rücksichtsvolle Lehrerin war. Küssen war für mich damals noch das Größte. Aber dabei habe ich mich bestimmt noch sehr ungeschickt angestellt. Irgendwie war mir diese feuchte Schmatzerei unangenehm und aufregend zugleich.

Als wir zum Haus zurückgekehrt waren und ich auf meinem Zimmer die Wette mit Rotstift in meinem Taschenkalender „heijo“ eingetragen hatte, schrieb sie mit Füller hinter „Café Kranzler“: „falls es nicht mehr besteht, Café Rumpelmayer.“ Ihre Handschrift war viel schöner als meine. Dies ist mein Kalendereintrag drei Wochen danach:

Natürlich nutzten wir stets jede Gelegenheit uns zu treffen. Täglich. Wir wurden immer verwegener, aber auch leichtsinniger. Wie kann man so viel junge Vertrautheit noch steigern? Es wurde ja noch ziemlich früh dunkel und nach dem Abendessen gab es immer einen zeitlichen Spielraum. Um halb sieben in der Halle mit allen Kindern, die älter als zehn Jahre waren, und den dazugehörenden Betreuern, vielleicht fünfundzwanzig Personen. Wir beide saßen natürlich nicht nebeneinander, aber wir hatten uns so gesetzt, dass sich unsere Blicke immer wieder trafen. Von einigen Anwesenden wurden wir wieder mal auch in dem allgemeinen Palaver fortwährend kritisch beobachtet. Jeder schien zu wissen, dass wir ineinander verknallt waren.

Eigentlich passten wir ja in keine der Kindergruppen mehr hinein. Wegen meiner Lehre im sieben Kilometer entfernten Bebra war ich noch nicht zu meiner Mutter gekommen, die zusammen mit meinem Stiefvater bei einer Handpuppenbühne gespielt hatte und darum bis vor ein paar Monaten dauernd in ganz Westdeutschland unterwegs war.

Peter, der etwa zehn Jahre älter war als ich und immer viel organisierte, verkündete nach dem Essen, dass alle schulpflichtigen Kinder um halb acht auf ihre Zimmer und um acht ins Bett zu gehen hätten. „Ältere können länger aufbleiben, wenn sie an der Messe teilnehmen wollen.“ Die einzigen, die dafür in Frage kamen, waren Dagmar und ich. Wir hatten ja noch so viel miteinander zu reden. Die lutherische Messe, die hier donnerstags und sonntags gehalten wurde, begann um acht, heutzutage: um 20 Uhr. Also hätten wir noch eine Stunde für uns. Wir halfen alle beim Abräumen und trugen Geschirr oder Besteck in die Küche. Auf dem Flur begegneten wir uns wie unabsichtlich. Dagmar sah mir fragend in die Augen und ich raunte im Vorbeigehen nur: „Beeil‘ Dich! In zehn Minuten.“

Natürlich hatten wir im nahen Park einen festen Treffpunkt, der auch heute noch zu dem Haus gehört, das im Frühklassizismus als adliger Landsitz mit Gutshof und mehreren Wirtschaftsgebäuden gebaut worden war.

Ich ging schnell zu Peter und sagte ihm, dass ich an der Messe teilnehmen wolle. Er hob die buschigen Augenbrauen und erwiderte: „Sei aber ja pünktlich, sonst hat das Konsequenzen!“

Was können das schon für Konsequenzen sein, dachte ich, stürmte auf mein Zimmer im Thinghaus, wie das eineinhalbgeschossige Wohnhaus der zehn- bis 14-jährigen Jungen genannt wurde, zog mir schnell warme Sachen über. Da es damals kaum noch Thing-Jungen gab, schlief ich hier alleine, wo sonst acht untergebracht waren. Damit mich keiner beobachten konnte, rannte ich hinter dem Thing-Häuschen den Weg zur Straße und von dort in den Park, unter den uralten Nussbäumen durch, sprang mit einem Satz über den Bach, lief an den Büschen entlang zur Rotbuche. Wer sie heute in dem Park suchen will, findet sie nicht, weil sie inzwischen altersschwach abgehauen wurde.

Dagmar war noch nicht da. Völlig außer Atem war ich und deswegen ganz froh, etwas verschnaufen zu können. Der riesige Baum streckte mir seine jetzt blattlosen Äste wie immer in Reichweite herunter. Wie oft hatte ich mit den anderen Thing-Jungen, von denen jetzt keiner mehr da war, auf diesen unendlich vielen Ästen Kriegen gespielt, hatte dabei meine Ängste überwinden und die Schwindelfreiheit gelernt! Die Mutigsten unter uns trauten sich bis in die oberste Spitze. Waren das zwanzig oder fünfundzwanzig Meter? Abgestürzt ist nie einer. Wenn ich mal abrutschte, fing mich der nächste Ast darunter auf. Er federte etwas, einige Rippen spürte ich auf dann sehr schmerzhaft, aber ich hatte noch Zeit genug, mich an ihm festzuhalten. Oder hielt er mich fest? Mein Vertrauen in den Baum war fast grenzenlos, und auch jetzt fühlte ich mich wieder einmal unter ihm geborgen, obwohl der kalte Sternenhimmel und einige blasse, vom Mond beschienene Wolken durch die kahlen Äste zu sehen waren. Ein paar Meter weiter bergauf stand der bestimmt genauso hohe Birnbaum, dessen oberste Früchte ich dank meiner Schwindelfreiheit oftmals als einziger pflücken und genießen konnte. So herzhaft schmeckende Birnen habe ich seitdem nicht mehr gegessen.

Nach einer kleinen Unendlichkeit kam sie. Wie viele unwiederbringliche Minuten waren nutzlos vergangen? Zuerst ein verschwommener Schatten, dann immer deutlicher eilte sie mir in die Arme.

Es sollte sich noch an diesem Märzabend herausstellen, dass dies die letzte halbe Stunde für uns beide war. Fünf Jahre später, am ersten Mai vor dem Café Kranzler, waren wir zwangsläufig keine Verliebten mehr, bestenfalls einstige Freunde füreinander und absolvierten verwundert eine nostalgische, selbstauferlegte Verpflichtung.

Dagmar wollte am 1. Mai 1962 nicht fotografiert werden, aber etwas ungeübt knipste ich sie aus der Hüfte.

Das Tolle war ja, dass wir bis dahin regelmäßig in Brief-Kontakt geblieben waren. Inzwischen lebte ich zunächst bei meiner Mutter in Idar-Oberstein, machte meine Gesellenprüfung, zog kurz nach der Taufe meiner Schwester nach Marburg wo ich erst als Schreiner arbeitete, hatte im Januar meinen Führerschein gemacht und besuchte gerade einen VHS-Abendkurs, um das Externen-Abitur zu machen. Anfangs wirkte erst mal mein Freund Richard, der nach meiner Entfernung aus Imshausen noch über ein Jahr länger dort war, wie ein geheimer Relais-Briefkasten, um den von Frau Vera verbotenen Briefwechsel zu bewerkstelligen, bis auch Dagmar weggezogen war und mir ihre Anschrift schreiben konnte. Natürlich war sie mittlerweile – im Gegensatz zu mir – in einer festen Beziehung mit Heiratsperspektive. Unsere damalige Wette, der zufolge ich in fünf Jahren meinen Charakter und meine Beziehung zur Mutter bessern könnte, war ja illusorisch. Wie hätte ich eine solche Besserung beweisen können? Die war beidseitig lebenslang höchstens bemüht. Leider.

„Darf’s ein bisschen mehr sein?“

Diese einst an der Fleischer-Theke übliche Frage der Verkäuferin klingt hierbei vielleicht zynisch, drängt sich aber beim Lesen des folgenden Beitrags auf. Denn die Fragen, wie es seit der Gründung des Staates Israel (1948) zu dem aktuellen, immer noch andauernden entsetzlichen und tausendfachen Morden gekommen ist und welches Ziel Israel offiziell hat, werden hier beantwortet.

Die Ursachen der – auch von mir überlebten – Dresdener Bombennacht vom 13./14. Februar 1945 wurden inzwischen, wie überhaupt vieler anderer Kriegsgräuel, sorgfältig beschrieben. Das Völkerrecht in der heutigen Form entwickelte sich seitdem.

Abgeschrieben:

Gaza, Israel und das Völkerrecht

Ein Artikel von John Neelsen

Im aktuellen Konflikt um Gaza sind die westlichen Regierungen, allen voran Washington und Berlin, ebenso wie die etablierten Medien Partei. Sie stehen voll hinter Israel, dessen Existenzrecht sie durch die Terrororganisation Hamas bedroht sehen. Bombardierung und späterer militärischer Einmarsch nach Gaza mit dem Ziel, die Hamas zu vernichten, finden ihre Zustimmung. Völkerrechtlich stützen sie sich dabei auf das Recht auf Selbstverteidigung angesichts des bewaffneten Angriffs der Hamas vom 7. Oktober mit 1.139 Opfern, darunter 695 Zivilisten, und 240 Geiseln. [1] Umstritten ist allein angesichts Tausender von Toten unter der Zivilbevölkerung Gazas deren Verhältnismäßigkeit. Diese Position widerspricht fundamental dem Völkerrecht. Statt der proklamierten menschenrechtsbasierten Außenpolitik ist der Westen Komplize eines späten Kolonialismus. Von John P. Neelsen.

1. Der Sechs-Tage-Krieg 1967, Völkerrecht und Status der Kontrahenten

  1. Der Gazastreifen mit seinen 2,4 Millionen, auf 362 Quadratkilometer eingepferchten Einwohnern wird seit 2007 von der Hamas regiert. Doch trotz israelischen Rückzugs aller Truppen und Siedler im Jahr 2005 betrachtet die UN das Territorium wegen der umfassenden Belagerung und Kontrolle aller Zugänge ganz wie die anderen, im Sechs-Tage-Krieg von 1967 eroberten Gebiete, d.h. den syrischen Golan, Ostjerusalem und die Westbank, als ‚besetzte Gebiete‘, Israel als ‚Krieg führende Besatzungsmacht‘. Von einer seit je geforderten Zweistaatenlösung keine Spur – trotz Osloer Abkommen von 1993. So ist Israel seinen zentralen völkerrechtlichen Verpflichtungen nach Rückzug bzw. zeitlicher Begrenzung seiner Besetzung und, noch weniger, diese zum Wohl und zur Sicherheit inklusive des Eigentums der Lokalbevölkerung auszuüben, nicht nachgekommen. [2] Im Gegenteil! Nach 56 – bzw. Gaza 38 – Jahren Besatzung gekennzeichnet von jüdischer, meist mit Enteignung und gewalttätiger Vertreibung der palästinensischen Eigentümer verbundenen Ansiedlung sowie einer umfassenden sozial-ökonomischen Fragmentierung und infrastrukturellen Archipelisierung der städtischen Gebiete der Westbank diagnostiziert die UNO eine Politik der Annektierung, de jure (Ostjerusalem) bzw. de facto. [3]
  2. Auf diesem Hintergrund formulierte die Generalversammlung der Vereinten Nationen, gestützt auf Resolutionen, inklusive des Sicherheitsrates ausdrücklich die Legitimität des Kampfes des palästinensischen Volkes für Selbstbestimmung auch mit Waffengewalt. [4] Darauf setzte auch die 1964 gegründete PLO (Palestine Liberation Organisation mit der FATAH als Hauptpartei und ohne die Hamas), die international als legitime Vertretung Palästinas – seit 1974 mit UN-Beobachterstatus – anerkannt ist. Ihrer Absage 1987 an den bewaffneten Kampf folgte im Kontext der ersten Intifada die Gründung der ‚islamischen Widerstandsbewegung‘ Hamas. Anders als vor allem Israel, die USA und die EU verdammen die meisten Staaten inklusive der UN die Hamas nicht als Terrororganisation. [5]
  3. Dabei ist zu berücksichtigen: (a) Hamas hat bei den bisher letzten palästinensischen Parlamentswahlen 2006 die absolute Mehrheit der Abgeordneten gewonnen; (b) seit 2007 regiert sie allein in Gaza, wobei viele Finanzmittel von der Fatah dominierten Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) in Ramallah überwiesen werden; (c) die überwiegende Mehrheit der Palästinenser begrüßt den Angriff der Hamas vom 7. Oktober, während Fatah, PA und vor allem deren Präsident Abbas abgelehnt werden. [6] Mit anderen Worten: Hamas ist intern demokratisch legitimiert und als Vertreterin eines besetzten Territoriums grundsätzlich als Befreiungsbewegung anzuerkennen. Dies gilt, mögen auch einzelne Akte des Angriffs vom 7. Oktober das auch für Befreiungsbewegungen geltende humanitäre Völkerrecht, wie Verhältnismäßigkeit und Unterscheidung von Zivilisten und Soldaten, verletzen und Straftaten darstellen. Israel andererseits kann als koloniale Besatzungsmacht kein Recht auf Selbstverteidigung beanspruchen.

2. Völkermord in Gaza und ‚Grundgesetz Israel‘

  1. Israel gibt vor, Hamas als Organisation auslöschen zu wollen. In Wirklichkeit wurde die jahrelange Blockade aller Zugänge mit einer mehrere Meter hohen, bis ins Mittelmeer reichenden und mit automatischen Maschinengewehren bestückten Mauer seit dem 7. Oktober in einen totalen Krieg, einschließlich Cyberspace, gegen die gesamte Bevölkerung Gazas gesteigert. Als Folge der an Leningrad im Zweiten Weltkrieg erinnernden Belagerung mit weitgehender Unterbrechung der Versorgung an Nahrungsmitteln, Wasser, Strom und Medikamenten leiden rund 600.000 Menschen (25 Prozent der Einwohner) an extremem Hunger und Wassermangel. Bei der seit zehn Wochen andauernden ununterbrochenen Bombardierung, gefolgt vom Einmarsch der Armee, wurde ein Großteil der Infrastruktur, Wohnhäuser, Hospitäler, Schulen, Kirchen und Moscheen zerstört. 85 Prozent der Bewohner sind auf der Flucht, ausweglos Gejagte im größten Freiluftgefängnis weltweit. Den bisher 29.000 Bomben, anfangs in einer Woche mehr als in einem Jahr über ganz Afghanistan, fielen bis dahin 20.915 Tote, 54.918 Verwundete und 8.000 Vermisste, zu 70 Prozent Frauen und Kinder, zum Opfer. [7] Der völkerrechtlich untersagte Einsatz von weißem Phosphor, von Artilleriegranaten in dicht besiedelten Wohngegenden und von 41 Prozent Sprengkörpern ohne Zielsteuerung verdeutlicht die Strategie: maximaler Tod und Zerstörung, unerträgliche Traumatisierung und dauerhafte Einschüchterung der Überlebenden. Demgegenüber beklagt Israel – über die 1.139 Opfer vom 7. Oktober hinaus – den Tod von 164 Soldaten im Einsatz in Gaza. [8]
    Dies ist kein Krieg, wie westliche Medien und Regierungen unablässig wiederholen. Dies ist ein Gemetzel, tagtäglich verübte Kriegsverbrechen gegen eine wehrlose Bevölkerung.
  2. Schlimmer noch, dies ist kein Zufall! Die UN-Konvention von 1948 definiert ebenso wie das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs von 1998 Genozid weniger an der absoluten Zahl der Opfer als an der Absicht, eine ethnisch-kulturelle Gruppe zu vernichten. [9] Typischerweise mit Dehumanisierung gepaart, finden sich entsprechende Äußerungen bei führenden Vertretern in Politik und Militär Israels. Von ‚menschlichen Tieren‘, die vernichtet, von Gaza, das dem Erdboden gleichgemacht werden müsse, sprachen Israels Premier, Botschafter und Verteidigungsminister. [10]
  3. Doch weniger als Reaktion auf einen Überraschungsangriff entspricht das israelische Vorgehen objektiv dem 2018 von der Knesset verabschiedeten „Grundgesetz ‚Israel – Nationalstaat des jüdischen Volkes‘“. In ihm hat allein das jüdische Volk das Recht auf Selbstbestimmung, werden Hebräisch als einzige Nationalsprache und das ungeteilte Jerusalem als Hauptstadt bestimmt. Mehr noch, das in den Grundprinzipien des Grundgesetzes genannte ‚Land Israel‘ erstreckt sich vom Jordan bis zum Mittelmeer. Es umfasst damit nicht nur das Territorium des Staates Israel, sondern auch die ‚besetzten palästinensischen Gebiete’ inklusive Westbank und Gaza. Dies erklärt die seit Langem verfolgte Politik der Apartheid für die 20 Prozent palästinensischen Israelis, die grundgesetzlich verankerte Ansiedelung von inzwischen 700.000 jüdischen Staatsbürgern auf originär palästinensischem Territorium sowie der forcierten Immigration aus der Diaspora. Gleichwohl besteht ein demographisches Problem: Der Palästinenser-Anteil im ‚Land Israel‘ entspricht mit 7,3 Mio. dem jüdischen, aber wächst stärker! Höhere Geburten- und Einwanderungsraten sind die eine, eine Reduzierung der Palästinenser-Bevölkerung durch Vertreibung und Flucht, eine Nakba 2.0, die andere strategische Variante.
  4. Gaza als Blaupause?! Entgegen seiner Verpflichtung als Besatzungsmacht und seines langfristigen Sicherheitsinteresses haben sukzessive israelische Regierungen statt Förderung einer kooperativen Entwicklung Gazas als Teil eines unabhängigen Staates Palästina dessen Bevölkerung sozial-ökonomisch stranguliert, allenfalls als billige Tagelöhner in Israel geduldet. Drei Viertel der Bewohner sind Flüchtlinge, viele leben in einem der acht Flüchtlingslager. 95 Prozent haben keinen Zugang zu sauberem Wasser. Abwasserkanäle und Kläranlagen sind praktisch nicht existent. Bei einer Stromversorgung von täglich maximal elf Stunden sind öffentliche Betriebe wie Krankenhäuser, vor allem aber Entwicklung von Industrie und Landwirtschaft a priori eingeschränkt. Seit der Blockade 2007 sind BSP und Pro-Kopf-Einkommen (PKE) um 37 Prozent gesunken. [11] Bei einem PKE von durchschnittlich 3,20 USD p.d. und einer Arbeitslosenquote von 46 Prozent, die in der Altersgruppe 15 bis 29 auf 62 Prozent ansteigt, ist dauerhafte ausländische Hilfe unersetzlich, denn 80 Prozent der Bevölkerung sind arm, 63 Prozent leiden unter Nahrungsmittelunsicherheit. [12] Angesichts der jetzt noch hinzukommenden existenziellen Zerstörung sind die Zukunftsaussichten trotz prognostizierten Bevölkerungswachstums auf 3,1 (2030) bzw. 4,7 Mio. (2050) katastrophal, werden u.a. Umsiedlungen z.B. nach Ägypten ins Spiel gebracht. [13]

3. Israel, Gaza und der Westen

Israel kann auf die grundsätzliche Unterstützung des kollektiven Westens, insbesondere der USA und Deutschlands, bauen. Schon lange als Terrororganisation gebrandmarkt, war die absolute Verurteilung des Angriffs der Hamas vom 7. Oktober vorhersehbar. Dessen Hintergründe werden ebenso wenig beleuchtet wie die Geschichte des seit 1948 andauernden Palästina-Konflikts, die Politik Israels oder die Perspektiven einer langfristigen Lösung auf Basis des Völkerrechts. Israel gilt als belagerte Demokratie in einem feindlichen Umwelt, das von einer blutrünstigen Terrorbande überfallen, in seiner Existenz gefährdet, in seinem Recht auf Selbstverteidigung, konkret Einmarsch in Gaza und Vernichtung der Hamas, militärisch und politisch unterstützt werden muss. [14] So ist trotz wachsender Forderungen nach einer (erneuten) ‚humanitären Feuerpause‘ bzw. einem Waffenstillstand die materielle politische und militärische Unterstützung Israels im Gegensatz zu den eher symbolischen Akten der Solidarität gegenüber palästinensischen Opfern ungebrochen. [15]

So entsandten die USA wie auch Frankreich frühzeitig Schlachtschiffe in die Region, um eine Ausweitung des Krieges zu verhindern, objektiv Israel den Rücken freizuhalten, dem Land einen Mehrfrontenkrieg zu ersparen. Ähnliches gilt für die Operation Prosperity Guardian im Roten Meer gegen Drohnen der mit den Palästinensern solidarischen jemenitischen Huthi. Von den USA offiziell zum Schutz der Handelsschifffahrt und der Freiheit der Meere initiiert, beteiligen sich, obwohl unmittelbar betroffen und Gegner der Huthis, weder Saudi Arabien noch Ägypten an dem Unternehmen. Auch China, das auf der afrikanischen Seite der Meerenge von Bab el-Mandeb eine Marinebasis unterhält, fehlt. Stattdessen befinden sich die Kriegsmarinen Frankreichs, Großbritanniens, der Niederlande, Norwegens, Italiens und Kanadas an vorderster Front, und auch die BRD überlegt einzusteigen. [16]

Resümee: Weder die Existenz, schon gar nicht das Existenzrecht des Staates Israel stehen auf dem Spiel, sondern der mit millionenfachem Elend bezahlte zionistische Kolonialismus. Statt auf das, allein wahre Sicherheit versprechende, implizite Zugeständnis eines Palästinenserstaates in den Grenzen von 1967 in Hamas programmatischen Grundsätzen von 2017 einzugehen [17], wird die gegenwärtige Politik auch in den folgenden Generationen nur zu mehr Hass, Widerstand und Blutvergießen führen. Ein Volk von heute weltweit 16 Millionen, dessen weit überwiegende Mehrheit in Europa über Jahrhunderte verfolgt, im Holocaust ein Drittel seiner Mitglieder hingemordet erlebt hat, wendet gegenüber den Palästinensern ähnliche Methoden der Ausgrenzung und Unterdrückung an – das ist die wahre Tragödie Israels.

Es wird die Schlacht um Gaza gewinnen, aber den Krieg verlieren! Der Genozid an der Bevölkerung, die Zerstörung von Gotteshäusern, Wohnungen, Sozialeinrichtungen und Hospitälern in Gaza hat die Weltöffentlichkeit gegen Israel aufgebracht, seine westlichen Beschützer isoliert und deren Kolonialvergangenheit ins kollektive Gedächtnis des globalen Südens hervorgeholt. Durch den Ukraine-Konflikt bereits angekratzt, wird der politische Niedergang des Westens und seiner Führungsmacht USA beschleunigt, seine Menschenrechtsrhetorik als Instrument einer Doppelmoral im Dienste reiner Machtpolitik entlarvt.

Beim Anklicken der Anmerkungs-Nummern wird die entsprechende NachDenkSeiten-Seite aufgerufen. Das muss man nicht, um den Text zu verstehen. Die 17 Anmerkungen sind sozusagen der Stolz des Wissenschaftlers John Neelsen, alles seine Aussagen belegen zu können.

Für 2024: Ein Frohes Neues!

Und viel Glück …

„Gute Party heute!“ schrieb mir mein jüngster Bruder heute auf WhatsApp. Nun bin ich ziemlich genau 20 Jahre älter als er und also aus dem Alter raus, in dem man noch verpflichtet ist, eine Silvester-Party zu veranstalten. Irgendwie ist es ja auch – wenn wir ehrlich sind – im Grunde stets dasselbe Spiel. Hatte doch einst die feudale Obrigkeit den ersten Tag des neuen Jahres angeblich deswegen arbeitsfrei gegeben, damit das gemeine Volk seinen Rausch vom Vortag ausschlafen und sich die neue Jahreszahl dann besser merken kann.

Horoskope haben wieder Hochkonjunktur. Dazu meinte schon Erich Kästner:

„Wird’s besser, wird’s schlechter?“ fragen wir jährlich. Sei’n wir doch ehrlich: Leben ist immer lebensgefährlich!

Nicht nur der private Blick in die Zukunft sucht im Nebel. Auch der politische. Wieder einmal versuchte sich am Silvester-Abend ein Bundeskanzler in seiner Silvesteransprache mit Erfolgen zu profilieren – und verfängt sich dabei in einer Schlinge seiner eigenen Propagandaabteilung wenn er behauptet, im vergangen Jahr hätten die Deutschen die von Russland verursachte Gaskrise gut überstanden – von Russland verursacht? Allein so eine Aussage kennzeichnet diesen Kanzler des Gedächtnisverlusts!

Wer hat denn direkt nach Beginn des russischen Einmarschs in die Ukraine die Sanktionen gegen Gasprom verhängt und wer klaglos die Sprengung der Gas-Pipelines in der Ostsee hingenommen? Kein Wunder, dass so jemand vergeblich um Glaubwürdigkeit kämpft! Sicher auch im neuen Jahr.

Na, dann prost allerseits!

Frohes Fest, ihr interessierten Mitmenschen!

Wenn auch etwas verspätet: Heiligabend geschafft! Auch das Festessen? Jedes Jahr erneut Bescherung. An welchen Heiligabend erinnert man sich so als erstem? Die schönste Freude ist die Vorfreude, sagt der Volksmund. Gab es die gewünschten Geschenke? Überraschungen? „Haben sich die Beschenkten auch wirklich über meine Gaben gefreut?“ ist bei der ganzen Schauspielerei ein nagender Zweifel. Geht es euch vielleicht manchmal auch so? Da werden im Leben wichtige Vorhaben oft deswegen nicht verwirklicht, weil immer wieder etwas dazwischen kommt, gerade vor Weihnachten!

Wer sich jetzt fragt, wie ich denn nun wohl die Kurve kriege, von dem allgemeinen Geschwafel weg und zu einer Erzählung zu kommen, den oder die will ich nicht enttäuschen. (Nebenbei: Das soeben genutzte „Gendern“ werde ich nicht wiederholen! Versprochen. Denn ich will mir sprachlich doch nicht selber dauernd ein Bein stellen, auch wenn diese (Un-)Sitte inzwischen sogar für akademische Arbeiten vorgeschrieben sein soll.) Denn Geschichten erzählen gehört doch zu Weihnachten – wie die Weihnachtsgeschichte! Eines meiner frühesten Vorhaben war, selber Geschichten zu erzählen und Bücher zu schreiben, zum Beispiel auch mal eine Autobiografie, für die schon einige Lebensjahre ins Land gegangen sein müssten, was ja inzwischen auch der Fall ist.

Seit Langem haben sich sozusagen mehrere textliche Mosaikstücke angesammelt, wofür hier ein Beispiel aus jenem schwierigen Alter folgt, als ich gerade 13 war, das jedoch nicht unbedingt mit Weihnachten zu tun hat:

Etwas Philosophie im Apfelbaum

Etwa zwei Meter hoch saß ich mit meinen 13 Jahren und einem Meter zweiundsiebzig Länge über dem Erdboden und philosophierte. Ja ja, damals wusste ich noch nichts von Michel de Montaignes Bemerkung, dass philosophieren bedeute, sterben zu lernen. Aber nun: Wozu noch in die Schule gehen, wo man von diesen verknöcherten Paukern doch kaum noch etwas Gescheites lernen konnte? Klar, ich wollte schon Schreiner werden, mit Holz, das immer so gut riecht, etwas gestalten und damit richtig Geld verdienen. Aber Schreiben würde mir viel mehr Spaß machen, obwohl alle sagen, das sei eine brotlose Kunst. Am besten verdient man erst genug Geld und kann dann in Ruhe schreiben.

Ja, so werde ich das machen, dachte ich über diesen unrealistischen Plan und biss, obwohl es mir wieder das Zahnfleisch zusammenzog, in den eigentlich noch zu grünen und darum ziemlich sauren Apfel. Wenn man schon mal morgens den Bus verpasst und deswegen mehr als sieben Kilometer zur Schule laufen soll, dann kommt man sowieso erst zur großen Pause an.

Die Sonne schien schon ganz warm und hier oben auf dem dicken Ast mit dem Stamm als Rückenlehne war die Aussicht auf die sich durch das kleine Tal schlängelnde Straße hervorragend. Kam endlich mal ein Auto da oben um die Kurve, konnte ich rechtzeitig runter springen und mit dem Arm winken um es anzuhalten. Mit einem Laster würde ich auch mitfahren. Einmal hatte mich ein Motorradfahrer auf seiner BMW 500 mitgenommen. Der fuhr so schnell durch die Kurven, dass mir ganz flau im Magen wurde.

Goethe war wohl ein toller Mann, was der alles geschrieben hat. Zu Weihnachten vor fünf Jahren hatte ich von Mutti schon ein ziemlich dickes Buch über Goethe bekommen, „Der geheimde Rat und die Kinder“ hieß es. Es war ein verwunderliches Deutsch, das zu lesen mir schwer fiel und einfach keinen Spaß machte. Aber den Zauberlehrling, den wir gerade in Deutsch durchnahmen, fand ich prima.

Schreiben kann ich doch auch. Immerzu muss ich ja Briefe schreiben. Seitdem ich vor sieben Jahren in die Schule kam. Besonders als ich endlich mal bei Mutti lebte.

„Wo ist Vati?“ hatte ich sie damals vor sechs Jahren gefragt, als ich eines Tages von ihm einen Brief bekam. „In München“ antwortete sie. Ja klar, das hatte ich selber auf dem Briefumschlag gelesen.

„Und warum bist Du nicht mit ihm verheiratet?“ wollte ich von ihr wissen. In der Schule und damals in dem katholischen Kinderheim von Unterdeufstetten hatte ich einige Jungen kennengelernt, die manchmal entweder nichts von ihren Eltern wussten, oder nur noch ihre Mutter hatten oder deren Mutter mit einem Onkel zusammenlebte, weil sie nicht wusste, ob ihr Mann vielleicht noch aus dem Krieg oder aus der Gefangenschaft heimkam.

„Ich musste mich von ihm scheiden lassen.“ Dass sich verheiratete Eltern auch scheiden lassen konnten, war mir damals neu. Darüber musste ich erst einmal nachdenken. Bei den Klassen- und Spielkameraden erkundigte ich mich beiläufig, weshalb sich Eltern scheiden ließen. Die wussten das anscheinend auch nicht immer so genau, meistens hatte es zwischen deren Alten, wie sie die dann nannten, ziemlich viel Ärger gegeben, sodass dann Mutter oder Vater die Scheidung wollte. Von müssen war aber nie die Rede. Das ließ mir keine Ruhe.

Aber da kam gerade ein VW, der Typ wurde später Käfer genannt, um die Kurve! Runter springen, den im Gras liegenden Ranzen schnappen und am Straßenrand mit ausgestrecktem Arm nicht zu schnell winken! Hielt er? Tatsächlich bremste er und stoppte. Die Mittelschule in Bebra musste heute doch nicht auf mich verzichten.

Erweiterte biografische Bildbetrachtungen

Vorbemerkungen

I

Über viele Sachen machen wir uns im Trubel des Alltags kein großes Kopfzerbrechen. Als Kind muss man die Unmenge an täglich Neuem irgendwie einordnen und ist dann später als Erwachsener meistens froh, gegenüber den beruflichen und familiären Ansprüchen einigermaßen gut über die Runden zu kommen. Störende Gedanken müssen dabei öfters mal verdrängt oder zumindest zurückgestellt werden. Wenn diese Gedanken dann auch noch mit unerfreulichen Erinnerungen verbunden sind, dauert die Zurückstellung möglichst lange. Bis es genügend Zeit gibt, sich um die dahinter stehende Frage zu kümmern: Warum?

Wenn ein heranwachsender Mensch beide Eltern hat, aber kein Elternhaus, kein Familienleben kennenlernt, dann gibt es dafür sicher Gründe. Welche Gründe aber führten dazu, dass mir gegenüber von beiden Seiten konsequent darüber geschwiegen wurde und mir vieles entweder nur zufällig oder aber erst nach dem Tod beider Eltern bekannt wurde?

II

In den „Essais“ von Michel de Montaigne fand ich eine Bemerkung, die darauf hinausläuft, dass er das Aufschreiben seiner eigenen Überlegungen und Erkenntnisse sinngemäß damit begründet, die Welt habe von ihm bisher so wenig Notiz genommen und er wolle ihr nun einiges mitteilen, was er für bedeutsam halte.* Außerdem sollte man nach seiner Auffassung nur davon etwas schreiben, worin man sich gut auskennt. Deswegen schreibe er von sich, und er „spreche als einer, der fragt und nicht weiß“, der nicht lehre sondern erzähle.**

Auch mir kam, schon in jungen Jahren, der Gedanke, vor dem Aufschreiben müsse erst möglichst viel Kenntnis und Erfahrung vorhanden sein. Nun ist es so weit, und die verfügbare Zeitspanne für das Aufschreiben wird immer kürzer. Bestimmt gibt es seltsamere und ungewöhnlichere, ja viel tragischere Schicksale. Aber jedes ist auch ein Stück Zeitgeschichte, und wahrscheinlich hängt ja doch alles mit allem zusammen. Zum Beispiel das Schweigen der sonst so beredsamen Mutter über eine von ihr verursachte entscheidende Wendung im Leben ihres kleinen Sohnes mit der Schlacht um Kreta 1944, oder auch das Schweigen des nicht nur von Berufs wegen wortgewandten Vaters über die seiner Meinung nach wirklichen Gründe für die Scheidung von der Mutter mit seinen schauspielerischen Fähigkeiten.

Vorsichtige Antworten oder Erklärungen gibt es nun nur noch aus hinterlassenen Dokumenten, bei denen unsicher ist, welche Wirklichkeit sie widerspiegeln. Dazu gehören natürlich auch Fotos, die manchmal datiert sind, sowie Briefe, die wegen eines ganz anderen Zweckes aufgehoben wurden. Und es gibt noch Erinnerungen an Szenen aus der Kindheit.

Die junge Mimin

Dies Foto fand ich in einem Album meiner Mutter, das mir nach ihrem Tod zukam. Es erscheint mir deswegen bedeutsam, weil es einen kleinen Einblick in jene Zeit ihres Lebens gewährt, von der sie mir höchst selten, und dann auch nur in Andeutungen etwas sagte, manchmal wie aus Versehen.

Auf der Rückseite ergibt sich aus dem Stempel eines Fotografen, dass die Aufnahme in Koblenz gemacht wurde. Hier begann Mutters Schauspielerleben.

Damals, 1940, war Eleonore Elisabeth Theresia Noll siebzehn Jahre alt und hatte – wie sie mir gegenüber einmal bemerkte: gegen den Willen der Eltern – gerade ihr erstes Engagement beim Westmark Landestheater Koblenz-Neuwied, das auch Gastspiele in anderen Städten gab.1 In Trier lernte sie dabei nach ihren späteren Angaben den gerade doppelt so alten, allerdings verheirateten Schauspieler Paul Hans Zimmermann kennen, meinen Vater, der – wie sie später, im Mai 19492, gegenüber dem Jugendamt schriftlich erwähnte –mit ihr ein Verhältnis begann, um sie an sich zu binden. (Ob sie sich allerdings wirklich nur wie ein Objekt in diesem Verhältnis empfand, darf in Anbetracht ihres Zerwürfnisses mit dem Vater bezweifelt werden.)

Der Gesichtsausdruck ist für eine junge Frau dieses Alters ausgesprochen nachdenklich, was überhaupt nicht zu einer Jugendlichen passt und vermutlich auch damit zu tun haben dürfte, dass dieses Studio-Foto für mögliche Bewerbungen vorgesehen war. Die Kleidung ist sehr dunkel, vielleicht tatsächlich sogar schwarz, sodass keine Einzelheiten erkennbar sind. Die Frisur der ziemlich langen, gewellten Haare verstärkt durch den Mittelscheitel die Ernsthaftigkeit.

Der ambitionierte Mime

Obwohl mir dies gerahmte und verglaste Ölgemälde im Format 60 mal 50 Zentimeter erst einige Zeit nach Vaters Tod3 zukam, sind der zeitlichen Abfolge wegen an dieser Stelle einige Überlegungen angebracht. Als nämlich seine Witwe Sophie, die fünfte und letzte Ehefrau, die mit ihm dreiundzwanzig Jahre lang glücklich verheiratet war, in eine kleinere Wohnung umziehen wollte, übergab sie es mir mit der Bemerkung, das Bild habe ein mit Vater befreundeter Maler angefertigt und ihm das Bild verehrt, weil er von ihm, dem damals etwa dreißigjährigen Schauspieler4, so begeistert gewesen sei.

Nun ist ein Ölporträt bekanntlich keine Momentaufnahme, wie etwa eine Photographie. Dafür muss der Porträtierte sicher mehrere Sitzungen geduldig mitmachen, in denen der Maler seine Wahrnehmungen umsetzt. So scheint Vater in seinem besten Mannesalter mit hohlen Wangen etwas ausgehungert zu sein. Der Blick geht versonnen oder nachdenklich leicht links am Maler und somit am Betrachter vorbei, und der entspannte Mund lässt keine Gefühlsregung erkennen.

Sodann stellt sich die Frage, wie das Bild wohl mehrere Bombardements, zig Umzüge sowohl vor und während wie auch nach dem Krieg so wohlbehalten überstehen konnte. Der Rahmen ist eine Sonderanfertigung aus hellen, mattierten Eichenholz-Leisten, wie es etwa in den neunzehnhundertsiebziger Jahren auch für Möbel in Westdeutschland Mode war. Vater lebte wahrscheinlich bereits mit Sophie zusammen, die er 1970 direkt nach seiner Verrentung und dem darauffolgenden Umzug von Ostberlin nach München dort kennengelernt hatte und 1972 heiratete. Da Sophies Mobiliar ebenfalls aus hellem Eichenholz bestand, ist die Annahme berechtigt, dass er in München dies Bild dazu passend rahmen ließ, es also mit seinen „Siebensachen“ aus der DDR mitgebracht hatte.

Diese leider undatierte Studio-Aufnahme scheint nach seinem Geschmack gewesen zu sein5: Der hochkonzentrierte Blick wird im Profil besonders deutlich, der leicht geöffnete Mund deutet das Sprechen eines Textes an, die seitliche Beleuchtung hebt auch hier die hageren Gesichtsfalten hervor, und die streng nach hinten gekämmten Haare enden über dem Kragen glatt geschnitten, als sei er gerade beim Friseur gewesen.

Die junge Mutter

Auf der Rückseite steht „Juni 1941, Pillnitz“ in Sütterlinschrift, wie Vaters Eltern mir noch Briefe geschrieben haben.

Etwa 15 Kilometer östlich des Dresdner Stadtzentrums, direkt an der Elbe, liegt das Schloss Pillnitz mit dem bezaubernden Park. Beides gilt als die bedeutendste in chinesischem Stil gebaute Schlossanlage Europas und ist seit jeher für Dresdener ein beliebtes Ausflugsziel. Also hatten die Eltern von meinem Geburtsort Göttingen aus, wo ja Vater noch ein Engagement hatte, in Dresden seine Eltern besucht und einen Ausflug dorthin gemacht.

Mutter wird einen Monat später ihr 18. Lebensjahr vollenden. Durch die Schwangerschaft und Geburt ihres nun gerade fünf Monate alten Sohnes ist ihr Traum von der Schauspielkarriere erst mal zuende. Sie trägt sozusagen ihren „Karriereknick“. Vom Sonnenschein beleuchtet steht sie scheinbar an einem Waldrand, da im Hintergrund Tannen stehen. Es wird der Schlosspark gewesen sein.

Sie hat die in der Mitte gescheitelten Haare derart nach hinten gebunden, dass die Ohren nur zur Hälfte bedeckt sind. Der leicht geöffnete Mund ist rechts ein wenig angehoben, während die etwas verschatteten Augen den Fotografen anblicken. Man könnte aus dem Schnappschuss schließen, dass sie diesen gerade fragt, wie lange es denn noch dauere, so als wolle sie mit dem etwas gequält wirkenden Lächeln gute Mine zum unerwünschten Spiel machen.

Denn vor sich hält sie ihr Baby so dem Fotografen entgegen, dass es direkt auf die Kamera blickt. Der rechte Ärmel der Jacke, einem Herrenjackett nicht unähnlich, ist etwas in Richtung Ellenbogen verrutscht und lässt die Anspannung der für das Andrücken des Kindes gebrauchten Muskeln und Sehnen erkennen. Die vom – für diese Jahreszeit sehr gut eingepackten – Kind verdeckte Linke stützt das Baby unter dem Windelpaket. Am unteren Bildrand ist links der Handgriff des Kinderwagens, rechts unten Kopf- und Schulterschatten des Fotografen erkennbar.

Dabei handelt es sich mit Sicherheit um den damals noch nicht von seiner ersten Frau geschiedenen Kindesvater Paul Hans Zimmermann6, der als Schauspieler noch nicht zur Wehrmacht eingezogen worden war.

Wie sehr sich die damalige Situation der Mutter in diesem Bild spiegelt, wird in schon auf der ersten Seite ihrer vierseitigen Selbstauskunft gegenüber dem Jugendamt deutlich, die sie im Mai 1949 selbst verfasste:

Als unglaubwürdig bezeichnete Tante Maria, die Frau von Vaters jüngerem Bruder Rudolf, viel später, als ich ihr das „Pamphlet“ nach dem Tod meiner Mutter zu lesen gab, (siehe weiter unten!) die hier und auf weiteren drei Seiten geschilderten herrischen Verhaltensweisen meines Vaters. Er sei ein liebenswürdiger Mensch gewesen. Allerdings war er auch durch und durch Schauspieler, so wie beispielsweise Förster, Architekten oder Lehrer ihren Beruf auch nach Feierabend leben.

Die abwesende Mutter

Dresden 1944/45

„Elbwiesen August 1944“ ist auf der Rückseite dieses kleinen Idylls vermerkt. Ich sitze als Dreijähriger in Lederhose vorne und bewundere meine Cousine Theresa, die sich kapriziös geriert. Rechts sitzt Oma Zimmermann mit Cousine Christa und links vermutlich eine Schwester von Tante Maria, der Mutter der beiden Mädchen, die wahrscheinlich auch das Foto geschossen hat. Es handelt sich also um ein Beweisstück dafür, dass ich zu dieser Zeit in Dresden war – ohne meine Mutter, über deren damalige Aktivitäten in dem Brief der Großmutter7 einige Hinweise zu lesen sind.

Das Foto klebte vorne in meinem allerersten Album, das mir von Opa und Oma Zimmermann 1954 zu meinem 15. Geburtstag (mein Vater würde sagen, es sei der 16. gewesen, weil ich ja bei meinem ersten null Jahre alt war) aus Dresden geschickt wurde. Damals lebte ich in dem Kinderhaus Imshausen. Davon ist chronologisch später zu berichten.

Die drei nachfolgenden Briefe aus Dresden haben vor allem deswegen die vielen stürmischen Zeiten überstanden, weil sie von meinem Vater als Beweisstücke gegenüber meiner Mutter für ein von ihm schon damals ins Auge gefasstes Scheidungsverfahren aufgehoben wurden. Seine fünfte Ehefrau Sophie sollte mir die Scheidungsakte erst dann übergeben, wenn ich sie darum bäte. Dies wurde aktuell, als mir nach dem Tod meiner Mutter von ihrem zweiten Mann die Herausgabe ihres Exemplars verweigert wurde.

Diese Zeugnisse aus dem damaligen Alltag finde ich allerdings nicht nur wegen der Hinweise auf Verhaltensweisen der Mutter sondern auch deswegen bemerkenswert, weil sie Beobachtungen aus meiner frühen Kindheit und außerdem Hinweise auf das allgegenwärtige NS-Netzwerk enthalten.

Brief der Großmutter

Dr., d. 19.12.44

Grüß Gott!

Mein lieber Hans!

Wir danken dir für deine liebe Post vom 5. 12. kam zuerst an diese (?) dann v. 22. Nov. u. gestern 28. Nov. Es tut uns von Herzen leid, daß Du mit Lore8 nichts hast, aber sie ist jetzt so verbohrt in ihre Sache u. geht durch dick und dünn wie man zu sagen pflegt. der arme Manuel hat (?) wenig Liebe zu erwarten wo sie ihn so von sich geben will ich hätte doch gleich losheulen können als ich gestern Deinen Brief las, daß sie Frau Doktor Wimmers (??) geschrieben hat, um ihn unterzubringen – das giebt es aber nicht lieber Hans du und der liebe Manuel sind doch so lange wir leben bei uns zuhause, ja sorge dich nur nicht, wir nehmen Manuel jederzeit zu uns, wo du Soldat bist sollte sich Lore doch schämen dir so weit weg von zuhause noch solchen Kummer zu bereiten. Maria bemüht sich so um ein paar Zimmer zu bekommen und hat schon ein Gesuch um Genehmigung laufen. Sie will doch wieder ein eigenes Heim9 aufbauen für Rudi und die Kinder u. Platz ist in unsere Schlafstube noch ein Bett zu stellen u. eine Bettstelle [Rückseite] haben wir noch auf dem Boden stehen, also mein lieber Hans, veranlasse nun, daß Manuel nach Dresden kommt, da hast du dann wieder Ruhe u. weißt, wo dein Kind sich befindet, wenn es nicht anders geht wende dich doch an die N.S.V.10 u. dann schreibe doch an den Kindergarten wo Manuel hingeht. Brief mit Porto fertig geschrieben, (…) bestimmt Nachricht von Manuel, wenn Lore dir nicht schreibt mußt du dir ja helfen. Es ist schlimm aber du kannst doch nicht so über dich alles ergehen lassen. Aber wenn Lore es (…) nicht anders will was bleibt dir übrig. Vor paar Wochen war Lore doch einen Nachmittag bei Hilde, Reinhold11 war gerade verreist u. wo war Manuel [?] Ob sie wohl davon gesprochen hat was sie vorhat mit ihm? Ja lieber Hans sei fest u. stark (…) so vor Gott bringen alle deine Sorgen zu unserem Heiland dem großen Menschenfreund (…) er wird dir Halt geben und alles zum besten führen! wo jetzt das Fest der Liebe vor der Tür steht u. wir so garnichts dir schicken können, was uns von Herzen weh tut. musst du noch immer so voll sorge sein. Lieber Hans! die Untertasse von Frau Dr. Wimmers (?) ist sehr gut geworden nur von (…) sieht man, zum brennen ging es nicht, da es kein echtes Porzellan ist. Nun für heute noch herzlichste Grüße u. alle guten Wünsche von Vater und Mutter.

[auf dem Kopf stehend am unteren Rand der Vorderseite mit Tinte geschrieben:]

Maria ist mit Thresa ins Erzgeb. 14 Tage. Christl ist hier macht uns viel Freude

Ein Geburtstagsbrief

Bis zur Erfindung des PC und des Internets war ja die Kunst des Briefschreibens für alle äußerst wichtig. Auf diese Weise sind eindrucksvolle, lebensnahe Dokumente erhalten geblieben. Ein solches ist der Brief meiner Tante Maria Zimmermann12 an meinen Vater, ihren Schwager Hans. Mich, also seinen dreijährigen Sohn Manuel umsorgte sie nachdem sie wegen des Bombardements ihrer Heimatstadt Münster/Westfalen in Dresden Lebte, außer ihren beiden kleinen Töchtern Theresa und Christa, auch mit. Tante Maria hatte unter anderem deswegen eine besondere Beziehung zu mir, weil ich am selben Tag geboren war wie ihre dritte Tochter, die allerdings nur zwei Wochen alt wurde.

Zwei Tage vor Vaters Geburtstag beginnt sie in der Dresdener Wohnung der Schwiegereltern13 nachts den Brief an ihren Schwager. Genannt werden auch: ihr Mann Rudi, der an heranrückenden Ostfront ist; Lore ist meine Mutter, die mich manchmal mit dem Kosenamen „Rübezahl“ rief. Hilde ist die erste Frau von Hans, meinem Vater; seine zweite ist (damals noch) Lore. Onkel Herbert ist zweifellos Herbert Wendt14, den meine Mutter von München aus, wo sie eigentlich mit Ehemann Hans und Manuel wohnte, in Berlin aufgesucht hat und bei dem sie auch lebte, obwohl er ebenso wie sie verheiratet war und als Schwerverwundeter mit seiner Frau in Berlin wohnte15. Tante Thea ist meine Kindergärtnerin. Der Rechtsanwalt (Dr. Christ) wurde von meinem Vater wegen der (sodann nach Kriegsende im November 1946 erfolgten) ins Auge gefassten Scheidung kontaktiert.

……………………………….

Dresden, den 25. Jan. 1945

Lieber Hans!

Wir warten jeden Tag auf Deine Post, doch leider kam noch nichts an. wie magst Du nur nach München gekommen sein, hoffentlich gut. Morgen ist nun Dein Geburtstag, nimm meinen herzlichsten Glück und Segenswunsch dar. Wünsche Dir eine gute u. gesunde Heimfahrt u. alles was Du für ein wirkliches Heim brauchst. – Von Lore hörten wir noch nichts. Hilde schickte heute Manuels Kartoffelkarte. Die Milchkarten würde Lore selber schicken, ebenso die neuen Lebensmittelk. Mutter wird der Hilde schreiben, dass ich umgehend die polizeiliche Abmeldung gebrauche. Hoffentlich schickt sie alle Lebensmittelkarten, sonst bekommt sie es mit mir zu tun. Manuel ist lieb und folgsam. Seine Blase bessert sich etwas. Am Dienstag war ich zum ersten Mal mit den Kindern zur Gymnastikstunde auf der Räcknitzstr. Hans es ist wunderbar schön u. für die Kinder gesund u. gut. Jede Stunde hat nur 4 – 5 gleichaltrige Teilnehmer, jedes Kind wird extra bei jeder Übung hergenommen. Manuel kommt besonders in Fuß und Bauchübungen dran. Schade, dass wir früher so etwas nicht gemacht haben. Theresa geht mit und so wird auch Rudis so lang gehegter Wunsch Wirklichkeit. Beide Kinder sind ganz begeistert. Manuel ist schon munterer, doch oft schreckt er noch zusammen. Schläge bekommt er bei uns, von mir, keine. Samstagabend hab ich ihn gebadet ohne zu weinen, er schlief Samstag u. Sonntag hier. Die Eltern waren Sonntag in Mockethal mit Theresa, Manuel u. Christel blieben bei mir. Christel schlief noch, ich deckte für uns schön den Tisch, wir hatten einen ganzen Kuchen, da nahm er mich in den Arm und meinte es sei Weihnachten. Er war sehr erstaunt, dass ich ihm Kuchen gab. Da kam zum ersten mal eine Erinnerung an seine Mutter. „Ich Manuel soll Kuchen haben, Manuel von Mutter Schläge bekommen, Finger davon, Kuchen ist nur für Onkel Herbert. Onkel Herbert wohnt bei Mutter im Parblatz“ Von dem Wort erzählt er so viel, was ist das nur, ich nehme an, Parkplatz? Als ich dieser Tage ihm Bonbon gab, kam wieder eine Erinnerung. „Manuel auch von Onkel Herbert Bonbons bekommen, Manuel sollte im Garten spielen bis es dunkel war. 2 X Manuel Bonbons bekommen von Onkel Herbert.“ Er ist noch klein und wird bald die Erinnerungen vergessen haben. Was nettes hat er von seiner Mutter noch nicht erzählt. Er fühlt sich sehr wohl und man spürt keinerlei Heimweh. – Eine ganz besondere Liebe verbindet ihn auch mit Tante Thea. Abends um 5 Uhr treffe ich mich mit ihr und übergebe ihr Manuel. Du solltest dann mal sehen, wie er sich freut und wie gern u. freudig er zu ihr springt. Du bist meine Tante Thea und dann drückt er sie. Frl. Focke leuchten dann die Augen und es macht sie glücklich, man sieht, sie hat ihn sehr gern. Sie hat als Kindergärtnerin Verbindung u. bekommt für den Kindergarten oft Spielzeug. Weil dort aber sehr viel kaputt geht, behält sie besonders hübsche Sachen zu Hause und Manuel darf dann damit spielen. Er rühmt sich stets damit, „ich bin Tante Thea ihr einzigstes Kind ihr lieber Manuel“, das macht Theresa oft ganz wild und sie möchte auch bei T. Thea schlafen. Du siehst, er fühlt sich und ist munter. – Es ist schon spät, die Eltern schlafen und ich möchte noch an Rudi schreiben. Rudi war jetzt in Münster, sie sind durch die Trümmerstadt marschiert, weil keine Bahn dort fährt. Rudi hatte sich Erlaubnis vom Major geholt u. sah nach unserm letzten Hab und Gut im Keller. Schnell nahm er sich sein Rad, suchte Li, Mutter und Thea auf. Er lag dann in Holland an der westfälischen Grenze. Doch leider war das nur ein kurzer Traum. Gestern bekam ich eine kurze knappe Karte. Alles fertig u. bereit, es geht in den Einsatz. Du kannst Dir nun meine innere Not vorstellen. Rudi dabei zu wissen, wo es so toll zu geht und dabei die beißende scharfe Kälte, wo er gar keine Kälte an den Händen verträgt ohne nicht Beulen zu bekommen.

Warst Du noch zeitig genug in München? Bist Du noch mit dem Rechtsanwalt einig geworden? Wird alles gut und schnell gehen, was meint Dr. Christ? Hilde schrieb heute an Mutter, für Manuel einen Kuß, an Theresa u. Christa keine Silbe – Dir lieber Hans alles Gute, besonders im kommenden Lebensjahr.

In Herzlichkeit Maria, Verzeih, ich bin sehr müd.

Zehn Tage danach

Den nachfolgenden Brief schrieb ebenfalls meine Tante Maria an meinen Vater. Es dauerte wohl einige Tage, bis er fertig war.

So sah ein Kameramann der Kino-Wochenschau nach dem „Terrorangriff“ der britischen Bomber einen der zerstörten Dresdener Straßenzüge. In anderen Straßen wurden Leichenberge verbrannt.

Mockethal16, den 24. Febr. 45

Lieber Hans!

Leider haben wir noch nicht Deine genaue Anschrift. Frl. Focke schrieb uns nur eine eventuelle. Ja nun haben sie auch Dresden klein gemacht und zwar so gründlich, daß es wohl genug ist. Am 13. Febr. abends kurz nach 9 Uhr ging die Sirene, es war kein rechter Alarm u. keine richtige Vorwarnung. Nach dem ersten Angriff brannte die ganze Innenstadt u. Neustadt, wir hatten nur geringen Wände u. Glas Schaden, die Kinder lagen schon wieder zu Bett, da heulte die Sirene auf u. schon fielen die Bomben. Wir lagen im Keller alle lang und hatten mit unserem Leben abgeschlossen, da mußten wir durch 5 Mauerdurchbrüche raus und kamen auf der Gneisenaustr. raus. Das letzte Stück mussten wir durch Flammen u. Funken runter zur Elbe wo die ersten Toten lagen. Eine ganze Nacht haben wir dann lang auf der Vogelwiese verbracht. Der Sturm u. Regen nahm zu, wir mußten uns legen wir wären sonst auch in die Elbe getrieben. Mutter, Theresa, Christel und ich waren zusammen, Vater fanden wir erst 24 Std später in Mockethal. Als es hell war machten wir uns auf und liefen über Blasewitz bei O. Julius vorbei bis Mockethal. Von Schachwitz an brauchten wir Christel nicht mehr zu tragen da haben wir die zwei Mädel in einen Wäschekorb gelegt und im Wagen gezogen. Vater u. Mutter waren noch öfter in Dr. um ihre Kartoffeln und Koffer aus dem Keller zu holen, nun haben sie alles hier. Am folgenden Sonntag brachte uns Frl. und Frau Focke Manuel. Hier sind wir nun zu 8 Flüchtlingen im Haus.

Sicher, wir waren erst froh ein Dach über dem Kopf zu haben, doch von Tag zu Tag ist der Zustand unerträglicher. Wir haben oben ein Zimmer eingerichtet bekommen was das Schlafz. von Christl, Theresa u. mir ist, das selbe Zim. dient uns als Küche, Wohnz. Bad u. Waschküche. Die Eltern und Klaus schlafen auf dem Boden, wo es durch jede Ziegel pfeift. Von Manuel ist der Koffer mit allem gerettet, auch von Vater u. Mutter. Ich hatte meine Kinder und das ist alles. Weder von den Kindern noch von mir, kein Teil an Wäsche oder Kleider gerettet. Alles, aber auch alles verloren. Rudi hat weder Taschentuch noch Strumpf noch sonst was. Seit Rudis Abreise haben wir noch keine Post und bei Roermont toben so tolle Kämpfe. Es wäre das letzte was ich erlebte, wenn ich nun noch den Rudi vermissen müsste.

Alles woran sein Herz hing, was Li in Münster für uns rettete, alles ist hin. Die Eltern von Hilde (Lübars) sind im Keller erstickt u. dann verbrannt. Wir hätten nicht länger im Keller liegen dürfen, dann wäre es uns auch so ergangen. Aber es ist bitter und hart vor einem gar nichts mehr zu stehen.

Bei diesem Wetter ist es besonders schwer, die Kinder dürfen nicht raus u. müssen nur in dem einen Zimmer hocken, wo Mittags Christl schlafen muss u. sich alles abspielt. Unten sind Dieter (Reinis) und Hannel der kleine freche Karl-Heinz, da dürfen unsere Kinder sich nicht sehen lassen.

Dresden ist vollständig hin, Morgen werden es 14 Tage und noch lagen heute Pragerstr. voll Leichen, Vater war heut in Dr[esden]. Ja Hans, Pflege, Ordnung, Ruhe alles ist hin. Unsere Kinder werden bald die Züge der Zeit in ihren kleinen Gesichtern haben. Von Lore kam nichts. Bommels Briefe sind auch verbrannt. Alle Eure Bekannten, Frl. Pentsch (?), Fr. Schuster und wie sie alle heißen mögen haben nichts gerettet. Es war der schlimmste Angriff, den der Feind gemacht hat. Jede Straße und Haus für Haus ist fort und so ganz Dresden. Vater war heute durch die ehemalige Stadt geklettert, es wären alle Kirchen hin, keine steht mehr. Die Brühl’sche Terrasse Oper, Schauspiel, Schloss, Zwinger, Altmarkt u. alles was Du Dir denken kannst, es war einmal. Von Lore kam nicht mal eine Nachfrage, ob Manuel lebt17, wo doch das Radio u. der O.K.W.18 Bericht den furchtbarsten Terror geschildert hat. Ja lieber Hans, wie mag das alles enden u. dann sind wir arm u. stehen vor einem nichts. – Die Eltern schlafen und Kinder auch, nun muss ich Schluss machen. Hannel unten, hat Scharlach u. Ilse u. Dieter haben die Krätze. Man sagt ja, ein Unglück kommt selten allein.

Frl. Focke waren erst hier bei Pillnitz in Hosterwitz, jetzt sind sie mit ihrem letzten Hab und Gut nach Gertgand, b. Tharandt. Frl. Focke schrieb mir heute einen Brief, sie war ganz verzweifelt, es gibt doch noch keine Verkehrsmittel u. wie mit ihrem letzten Hab und Gut fortkommen.

Lieber Hans, so sieht es hier aus, traurig was. Nun werde ich auf die Couch zu Theresa gehen. Es steht für mich fest, dass wir nicht lange das aushalten. Aber wohin, und was anfangen?

Dir lieber Hans beim Kerzenschein, herzliche Grüße

von Deiner Schw.19

Maria.

Hoffentlich kommt bald Post von Dir, daß der Brief fort kann.

Heute am 10. März20 kam Deine erste Post an, eine Karte, gestempelt aus dem Würtemb.21 Von Rudi noch keine Post – .

Onkel Rudi kam nach ihrer späteren Erzählung ein paar Tage später von der Ostfront auf dem Bahnhof Dresden an, beide trafen sich dort zufällig und fuhren mit dem letzten Zug Richtung Münster. Kurz darauf muss mich mein Vater von den Großeltern abgeholt und nach Plannegg bei München gebracht haben.

Schnappschuss

Dem unkundigen Betrachter dieses Bildes käme vermutlich nicht so ohne weiteres in den Sinn, dass es sich hier um Mutter und ihren Sohn Manuel handelt. Während ihre Körperhaltung statisch, wenn nicht sogar steif wirkt, versucht der an diesem Tag fünf Jahre alt gewordene Sohn auf den Fotografen zuzugehen, indem er mit dem linken Bein nach vorne schreiten will und mit der rechten Hand auf den Fotografen zeigt. An seiner linken Hand hält mich jedoch die Mutter fest, die ihren Kopf mit der symmetrisch gescheitelten Frisur neigt und (mit offensichtlich strenger Mine) etwas – wie die Mundpartie zeigt – Strenges zu mir sagt. Dabei blicke ich wie Hilfe suchend, jedenfalls fragend zum Fotografen, der offensichtlich mein Vater ist.

Zur Entstehungsgeschichte dieses Fotos ist überliefert, dass ich, nachdem ich in Dresden 1945 die Bombardierungen der Stadt ohne Mutter bei den Eltern des Vaters er- und überlebt hatte22, beim Vater in Planegg bei München lebte.

Währenddessen hatte sich Mutter, wie schon im Herbst und Winter 1945/46 de facto nicht um mich gekümmert, was natürlich zur Folge hatte, dass ich sie kaum noch kannte. Später erzählte sie mir einmal entrüstet, dass Vater – angeblich auf ihren Wunsch hin, mich zu sehen – zu jenem Geburtstag mein Treffen mit der „Geburtstagsfrau“ arrangiert habe. Somit ist es ein Dokument dieses Treffens. Im November 1946 ließen sich die Eltern scheiden.

Eine befremdliche Beziehung zwischen Mutter und Kind kommt also in dem Bild zum Ausdruck. Die grobkörnige Qualität der Fotografie ist vermutlich dem schlechten Filmmaterial der Nachkriegszeit geschuldet.

Nachkriegszeit

Planegg

Es war doch eine schöne Zeit mit dem Vater.

Als ich zwei Jahre nach dem Krieg in die Schule kam, muss es einen herrlichen warmen Sommer gegeben zu haben. In Planegg bei München wurde ich im April zum ersten Mal eingeschult.

So sieht sie heute aus. Von der Schule weiß ich nur noch, dass uns einmal auf dem Schulweg ein Mädchen mit einer Brille entgegen kam und ein neben mir gehender Junge sagte: „Mein letzter Wille: ’ne Frau mit Brille!“ Dabei fand ich Brillen eigentlich irgendwie schick. Sie machten einen Menschen doch bedeutend.

Denn dort, wo ich damals gerade zu Hause war, lebte ich schon einige Zeit bei meinem Vater. Er wollte gern Vati von mir genannt werden. Immer wenn er seine Brille aufsetzte, wurde es spannend. Er holte einen Stapel Papier aus seiner Tasche, oder aus einer Schublade, redete irgendwelche unverständlichen Sachen, wedelte manchmal mit den Armen und schnitt Grimassen, wie es mir vorkam. Damit ich nicht störte, sollte ich am besten in den Garten spielen gehen. Klar, heute weiß ich natürlich, dass er als Schauspieler immerzu etwas auswendig lernen musste.

Die Frau, die auch dort war, trug eine Brille. Sie war unheimlich klug, denn immer dann, wenn mir irgendetwas wehtat, besonders als ich mir einmal die Finger in der Türe geklemmt hatte, konnte sie helfen. Tatsächlich war sie eine Frau Doktor und hatte ihren Mann im Krieg verloren. Im Haus gab es zwei Etagen. Unten waren die Zimmer, in die ich nur dann rein durfte, wenn mir wirklich etwas wehtat. Das müssen wohl die Praxisräume gewesen sein.

Oben gab es, außer einem großen Bad mit einer weißen Wanne und dem Fenster zum Garten, gegenüber auch ein Schlafzimmer mit einem riesigen Bett. In dem durfte ich manchmal schlafen. Dafür wurde im Sommer der Rollladen runter gelassen, weil es draußen noch so hell war. Als ich aber einmal immer noch nicht einschlafen konnte, rollte Frau Doktor ein Tischchen zur Türe rein, auf dem sich ein seltsamer Kasten befand mit einem gekrümmten Trichter oben dran. An der Seite war eine Kurbel, mit der wurde in dem Kasten etwas aufgezogen. Mir wurde versprochen, dass ich jetzt eine sehr schöne Musik hören dürfe, zum Einschlafen. Sie setzte den Tonarm auf die schwarze, runde Scheibe, ging raus und ließ mich der Musik alleine.

Das war ja wahnsinnig aufregend. Dabei konnte man doch nicht einfach einschlafen! Als die Musik aufhörte bin ich zur Tür und rief, ich wolle es noch einmal hören, denn es sei so schnell zu Ende gewesen. Viele Jahre später kam mir diese Szene plötzlich wieder in Erinnerung, als ich bewusst die „Kleine Nachtmusik“ von Mozart hörte.

In jenem heißen Sommer zauberte Vater für mich. Im Garten hinter dem Haus gab es im Garten Büsche und Bäume und ziemlich hoch stehendes Gras. An einem Nachmittag, als es wieder so schwül war, stellte er eine große Zinkwanne ins Gras an der Hauswand. Oben im Bad im ersten Stock füllte er die Badewanne mit Wasser. Oh je! Da muss ich wohl helfen, das Wasser in Eimern die Treppe runter zu tragen, schoss es mir durch den Kopf, als ich das sah. „Das lassen wir das Wasser am besten selber machen“, sagte Vater lachend als er mein fragendes Gesicht sah. Aus dem Keller holte er einen Gartenschlauch, warf ein Ende davon durch das geöffnete Badezimmerfenster in den Garten, tauchte das andere Ende ins Wasser und band es mit einer Schnur am Wasserhahn fest, damit es nicht dem langen Ende hinterher rutschen konnte. Unten im Garten saugte er dann wie ein Verdurstender an dem über der Zinkwanne hängenden Schlauchende, bis ihm plötzlich ein Schwall Wasser in den Mund schoss. Tatsächlich kam das Wasser jetzt von alleine runter und ich konnte so viel plantschen wie ich wollte, um mich danach in der schönen warmen Sonne wieder richtig aufzuwärmen. So genoss ich viele schöne Tage.

Bei dieser Gelegenheit gelang mir einmal ungewollt ein denkwürdiges Experiment. Im Gras liegend fand ich Schnecken und Regenwürmer. Die fanden offensichtlich nicht den Weg in das so angenehm wärmende Sonnenlicht und krochen immer im Schatten am Boden herum. Auf der steinernen, fast glühend heißen Platte des Gartentisches bot ich so vielen Schnecken und Würmern wie ich nur finden konnte einen Platz an der Sonne. Die wussten meine Fürsorge aber überhaupt nicht zu schätzen und wollten immerzu über die Tischkante abhauen, was ich so lange verhindern konnte, bis sie reglos liegen blieben. Vater kam dazu, sah dass ich bekümmert war und erklärte mir, warum diese Tiere die wärmenden Sonnenstrahlen nicht so toll finden können wie ich, und dass sie nun wegen meines Irrtums gestorben seien.

Als ich später, im dritten oder vierten Schuljahr, bei der Behandlung von Sprichwörtern dieses erklären sollte: „Dem eenen sin Uhl is dem annern sin Nachtigall“, da verstand ich die Übertragung der Bedeutung und konnte mich melden: „Den Schnecken gefallen die Sonnenstrahlen nicht, weil sie dadurch leicht austrocknen und sterben. Aber uns gefallen die Sonnenstrahlen sehr, und wenn es so schön warm ist dürfen wir barfuß laufen.“

Mit der Frau Doktor bin ich auch zum ersten Mal in einem Auto gefahren. Es war ein VW-Käfer, ich saß vorne rechts. Bei der Fahrt über einen holprigen Waldweg schleuderte ich rauf und runter, hin und her und konnte mich nirgends festhalten. Einmal kam ich vom Spielen heim und biss hungrig in eine Scheibe Brot, die ich in der verschmierten Hand hielt. Auf die Ermahnung meines Vaters, ich solle mir doch erst die Hände waschen, antwortete sie: „Dreck scheuert den Magen.“

Vaters Beziehung zur Frau Doktor dauerte wohl bis zum Ende des Winters. Jedenfalls holte mich meine Mutter im Frühjahr 1948 und brachte mich zu ihren Eltern nach Witten im Ruhrgebiet, denn sie selbst war als Schauspielerin mit einem Tourneetheater immerzu von einer Stadt zur anderen Unterwegs.

Witten

In Witten lernte ich Muttis Eltern und ihren Bruder Wolfgang Noll kennen. Genauer gesagt in Witten-Annen. Diese Großeltern waren wie Mutti aus Dortmund. Aber dort war die Wohnung kaputt, zerbombt. Nun lebten sie hier in einer ziemlich engen Dachgeschosswohnung im dritten Stock, und ich Sechsjähriger kam noch dazu. Wenn man die Treppe hochkam stand man gleich in der Küchen-Sitzecke mit Kohleherd. Wegen der Enge spielte ich möglichst viel mit anderen Kindern draußen, meist auf der Straße.

Das eine Ende der Robert-Koch-Straße war zu. Auf dem hohen Bahndamm fuhr nur selten mal eine Rangierlok. Auf jeder Seite der Straße, in der wir Kinder ab und zu von einem Kohlenauto beim Ballspielen gestört wurden, standen vielleicht acht oder zehn Wohnhäuser. Die sahen alle ähnlich schwarzgrau oder schwarzbraun aus. Am anderen Ende brauste der Verkehr über die Annenstraße. Die in der Straßenmitte fahrende Straßenbahn bimmelte immer laut, wenn sie an der Haltestelle vor unserer Kreuzung wieder anfuhr.

Einmal kamen mehrere dunkelgrüne Autos, offene Jeeps mit uniformierten Soldaten mit brauner Gesichtsfarbe angebraust und fuhren oft im Kreis auf der Kreuzung. Dabei riefen sie unverständliche Wörter und warfen uns Kindern Schokoladentafeln zu. Wir waren nämlich an die Ecke gelaufen und wollten wissen, was da los ist.

„Das sind die Engländer!“ rief einer. Da waren sie natürlich unsere Freunde. Sie zeigten beim Lachen ihre weißen Zähne und wir lachten und winkten ihnen hinterher.

Oft beobachteten wir Kinder von der Straßenecke aus, wie im letzten Augenblick ein paar Männer auf das Trittbrett der schon fahrenden Bahn sprangen und sich an einer Griffstange festhielten. „Hast du das gesehen! Der hat’s nicht mehr geschafft!“ kommentierte schon mal mein neuer Freund Willi einen vergeblichen Versuch. Ein Mann sprang wieder runter und lief dabei ein paar Schritte mit. Die nächste Haltestelle nach links konnten wir noch sehen. Bevor die Straßenbahn wieder stand und die Türen aufgingen, sprangen manche Männer vom Trittbrett wieder ab und eilten zum Bürgersteig. Das sah richtig sportlich aus. Von unserer Kreuzung zur nächsten waren es vielleicht fünfhundert Meter. Wir Knirpse bewunderten die Männer. Keiner von uns traute sich das zu.

In Witten wurde ich erneut eingeschult, weil hier das Schuljahr damals nicht im august sondern im April begann. Zur Schule musste ich etwa eine Viertelstunde in dieselbe Richtung laufen wie die Straßenbahn fuhr. Eines Morgens, ich war spät dran, die anderen schon weg, da wurde ich mutig und rannte zwischen den Autos durch zur gerade wieder anfahrenden Straßenbahn. Beim Aufspringen kamen meine Füße zwar auf das Trittbrett, aber das Gewicht des Ranzens auf dem Rücken kriegte ich nicht schnell genug hoch. Bums saß ich auf der Straße, um mich herum ein Quietsch- und Hupkonzert. Auf dem Schulhof lachten mich nicht alle aus. Einige, auf deren Meinung ich Wert legte, bewunderten mich sogar. Willi war stolz, mein Freund zu sein.

Trotzdem schlich ich mittags ziemlich geknickt zu den Großeltern. Oma hatte schon Wind von meiner Heldentat bekommen und meinte zur Begrüßung: „Warte nur, bis Onkel Wolfgang nach Hause kommt!“ Das Mittagessen wollte mir nicht schmecken. Spielen auf der Straße machte nicht richtig Spaß. Da saß ich lieber endlos an den Hausaufgaben. Schönschrift üben.

Es war schon fast dunkel, als Onkel Wolfgang die Treppe hoch kam. Ich erkannte ihn am Schritt. Oma erklärte ihm, was sie erzählt bekommen hatte. Das hörte sich an, als sei am Morgen wegen mir in der ganzen Stadt der gesamte Verkehr total zusammengebrochen. Er ging noch vor dem Abendessen mit mir wortkarg in sein Zimmer, befahl mir meine Hosen auszuziehen und mich bäuchlings nackt auf sein Bett zu legen. Langsam schnallte sich dieser Onkel Wolfgang, der doch der Bruder meiner Mutter war er, seinen breiten Ledergürtel ab, der Riemen pfiff durch die Luft und klatschte immer wieder auf mein Hinterteil. Meine Schmerzensschreie und mein herzzerreißendes Flehen, doch bitte aufzuhören, hat sicher die ganze Straße gehört. Gleichmäßig und grausam sauste das Leder erneut auf mich herunter. Ausweichen ging nicht. Es schien ewig zu dauern, bis er endlich aufhörte.

Ich glaube, ich habe es meiner Mutter nie verziehen, dass sie so einen Bruder hatte. Natürlich konnte sie nichts dafür. Das wusste ich damals auch schon. Auch dass Oma ihn nicht gebremst hat, habe ich ihr übel genommen. Jedenfalls konnte ich ihnen später keine Briefe mehr schreiben, die mit „Liebe Oma, lieber Opa“ begannen.

Bald darauf fand ich mich bei katholischen Nonnen wieder. Weil nämlich Muttis Eltern durch die Bombenangriffe auf Dortmund selber nervlich ziemlich am Ende waren und mit mir nicht klarkamen, hat sie, wie ich viel später erfuhr, über Verwandte, die in Ludwigsburg wohnten, für mich einen Platz in einem Kinderheim im Schwarzwald ausfindig gemacht. „Bei denen gab es damals sogar Butter“, schwärmte sie später bewundernd.

Unterdeufstetten

Es war jener denkwürdige Sommer, in dem es neues Geld gab. Einer der anderen Jungen in dem Kinderheim zeigte stolz einen Geldschein herum, der so bunt aussah, als hätte man ein paar Heidelbeeren darauf verschmiert. Münzen gab es keine. Als Groschen galten da bedruckte Zettelchen, etwas größer als Briefmarken. Ein paar Jahre lang konnte man dann einem, der etwas nicht so schnell kapierte, was man gerade erklärt hatte, statt „Ist der Groschen gefallen?“ „Papiergroschen?“ fragen, weil die eben länger brauchten, bis sie im automat unten ankamen. So erlebten wir Kinder die Währungsreform 1948.

Natürlich schrieb ich so gut es ging, wie die anderen Kinder auch, Briefe an Mutti, Vati, die Großeltern und manchmal auch an Tante Maria. Im Absender musste ich „Unterdeufstetten Krs. Crailsheim“ schreiben.

In die nahen Wälder wurden wir zum Himbeeren suchen geschickt, wahrscheinlich für Nachtisch oder Marmelade. Dazu gab es jedenfalls einen Wettbewerb. Je nachdem, wie viel man im Töpfchen anbrachte, gab es kleine Gewinne und Belohnungen. Wer je im Wald Himbeeren gesammelt hat weiß, dass die gerne zusammen mit Brennnesseln wachsen. Es war warm, wir hatte alle kurz Ärmel und folglich ziemlich zerstochene Arme. Da sah ich doch nicht ein, dass ich bei dieser Quälerei anderen etwas abgeben sollte. Mir schmeckten die Himbeeren ausgezeichnet. Der Boden meines Töpfchens war stets höchstens zwei Finger hoch bedeckt. Nie wurde ich bei der Ehrung der guten Sammler vor dem Tischgebet zu Beginn einer Mahlzeit lobend erwähnt. Aber mir machte das nichts aus.

Doch beunruhigte mich die Angst vor den Nächten, in denen ich oft von der entsetzlichen Bombennacht in Dresden träumte.

Dieser bekannte Blick vom Rathaus auf einen Teil der bombardierten Altstadt zeigt auch irgendwo jenen Platz, auf dem das Geschehen meines so oft wiederholten Traumes stattfand.

Der nächtens oft, aber unregelmäßig wiederkehrende Stand in der Hölle: Erst schön ins Bett gebracht mit einem heißen, eingewickelten Ziegelstein am Fußende. Denn es war im Februar 1945 bitterkalt. Plötzlich sehe ich mich auf einem Platz. Rings umgeben von in Flammen stehenden Häusern. Glühende Dachrinnen fallen herunter, Sirenengeheul, Menschen schreien, Bäume brennen wie Fackeln. Dazu ein Höllenlärm, Feuerwehren. Rechts neben mir ein Mann23. Mit einer Gasmaske vor dem Gesicht versucht er, auch mir ein solches Monstrum anzupreisen und überzuziehen, schnorchelt schnarrend durch den Nasenschnippel aus Gummi, um es lustig zu machen. Ich wehre mich mit Leibeskräften dagegen, so etwas überzuziehen und schreie fürchterlich. Davon wachte ich dann auf und lag in einer Pfütze.24

Dagegen hatte ich eine Art Doppelstrategie erfunden. Zum Einschlafen in dem Schlafraum mit vielleicht acht Kindern in den Doppelstockbetten sang ich mir zum Trost leise unter der Decke Liedchen vor, zum Beispiel das Weihnachtslied „Ihr Kinderlein kommet, o kommet doch all“. Das hat wirklich geholfen. Wenn ich dann doch wieder mal mitten in der Nacht von meinem Albtraum hochschreckte und das Unheil fühlte, schlich ich leise in den Waschraum und holte ein paar trockene Handtücher, breitete sie auf dem Laken aus und legte mich drauf. Morgens war dank meiner Körperwärme und der Saugfähigkeit der Handtücher nichts mehr zu sehen.

Ein anderes Erlebnis wirkte bis heute nach. Wenn einem schlecht wird, dann ist doch irgendetwas nicht in Ordnung. Und mir wurde hundeelend, als in der Kirche ein Schwall der Wolke aus dem Schwenkkesselchen von da vorne bei mir ankam. Der so bunt gekleidete Pfarrer sprach und sang dabei unverständliche Worte. Neben mir die Frau mit der riesigen weißen Haube auf dem Kopf drückte mir auf die Schultern. Ich sollte mich auch so knien wie alle anderen, auch die vielen Kinder, die mit mir vorhin reingekommen waren.

Mir blieb fast die Luft weg, mein Magen revoltierte schon. Irgendwie rettete ich mich zum Ausgang an die frische Luft. Später erklärte mir jemand, dass es der Weihrauch gewesen sei, von dem mir schlecht geworden war. Da ich als „Evangelischer“ sowieso nur aus „Erbarmen“ aufgenommen worden war, musste ich nicht mehr unbedingt an den Gottesdiensten in der Kirche teilnehmen. Es tut mir leid, aber seit dieser Erfahrung wecken Weihrauch und die katholische Kirche in mir körperliche Abwehrreaktionen.

Aber es gab auch wirklich Gutes. Das regelmäßige Essen war manchmal sogar mehr, als wir Hungermäuler vertilgen konnten. Von den Salzkartoffeln fiel schon mal eine vom Teller, die ich dann mit den Fingern in den Mund steckte. Die Finger wurden ganz klebrig davon. Einmal nachmittags wollten wir aus Leisten und Papier Drachen bauen und stellten fest, dass der Klebstoff alle war. Da holte ich aus der Küche ein paar von den übrig gebliebenen Salzkartoffeln und wir benutzten sie zum Kleben der Papierränder um die Schnur-Bespannung. Das hielt dann richtig auch bei stärkerem Wind. So hatte ich eigentlich den späteren Klebestift erfunden.

Dort waren viele heimatlose, aber immerhin davongekommene Kinder. Ein etwas älterer Zigeunerjunge, der noch bis in den November die kurze Lederhose trug, freundete sich mit mir an. Einmal schob er mir die Haare aus der Stirn nach oben und meinte am Haaransatz zu erkennen, dass ich ein langes Leben vor mir hätte. Das war vermutlich der Grund, dass ich immerzu sicher war, noch sehr viel Zeit zu haben.25

Rotenburg an der Fulda

In Rotenburg war Mutter 1948 mit ihrem Nachkriegs-Tournee-Theater wegen der Währungsreform „hängen geblieben“, wie sie es erklärte26. Denn von einem Tag auf den anderen sind nach ihren Worten die Menschen nicht mehr in die Theatervorstellungen geströmt, weil sie nicht mehr so viel Geld hatten. Zu Reichsmark-Zeiten habe es viel Geld gegeben, aber kaum etwas zu kaufen. Nun sei es umgekehrt gewesen. Allerdings erinnere ich mich dunkel an zwei Jedermann-Aufführungen, eine im Schlosspark und eine auf dem Neustädter Marktplatz zwischen dem historischen Rathaus mit seinem beidseitigen Treppenaufgang und der Kirche. Ich verstand natürlich kaum etwas und wunderte mich, warum die vielen Leute klatschten.

Zu jenem Tournee-Theater, das in sich Northeim gebildet hatte, sich wohl bald nach der Währungsreform auflöste, gehörte auch Heinrich Wilhelm Winkler, ein ehemaliger Wehrmachtsoffizier, der in Northeim dazugestoßen war, sich um die technischen Fragen wie beispielsweise die Kulissen kümmerte und es verstand, Mutter zu erobern. Schließlich war sie, die im November 1946 von meinem Vater geschieden worden war, der Star der Truppe.

Der Gesichtsausdruck erscheint diesmal heiter und zeigt ein vorsichtiges Lächeln, wobei der Blick nicht direkt auf die Kamera – und somit auf den Betrachter – gerichtet ist. Die linke Augenbraue scheint auch leicht nach oben gezogen zu sein, als ob sie gerade einen witzigen Gedanken hätte.

Sie trägt ihr viele Jahre lang heißgeliebtes „Apfel-und Birnen-Kleid“, das sie von der Leiterin des Rotenburger Amerika-Hauses aus einem Care-Paket geschenkt bekommen hatte. Die zu einem beachtlichen Aufbau zusammengesteckten Haare lassen diesmal den Hals und die Ohren frei, an denen zierliche Ohrringe zu sehen sind.

Seltsame Gartenidylle, Sommer 1949

Heinrich Wilhelm Winkler, ein ehemaliger Wehrmachtsoffizier, war als technischer Assistent (Kulissenbauer) zu der Theatertruppe gestoßen und hatte es verstanden, Mutter zu erobern, die quasi der Star des Ensembles war. Beide fanden Unterkunft in der Neustadt am Kirchplatz 13 bei Erika Voigt, die damit ihre Verehrung der Schauspielerin zum Ausdruck brachte. An Heiligabend 1948 heirateten beide, nachdem er mich Siebenjährigen vier Wochen zuvor aus dem Kinderheim in Unterdeufstetten im Schwarzwald auf recht abenteuerliche Weise per Anhalter, teils im LKW, im Ami-Jeep, teils mit dem Zug geholt hatte.

Frau Voigt besaß auch ein Gartengrundstück an der Straße in Richtung Braach nahe der Fulda, in dem wir im Sommer 1949 öfters am Wochenende waren.

Das Bild zeigt in mehrfacher Hinsicht ein sehr charakteristisches, auch psychologisch merkwürdiges Arrangement. Da steht ein Wohnzimmersessel im Gras, auf dem Mutter sitzt. Sie hat ein Sommerkleid mit Puffärmeln an und auf dem Schoß zwei aufgeschlagene Bücher übereinander liegen, die von beiden Händen gehalten werden. Ihr Blick geht leicht versonnen, fast träumerisch an der Kamera vorbei. Die Frau erweckt nicht den Eindruck, als ob sie mit den beiden anderen Personen eine engere oder gar glückliche Beziehung hätte.

Hinter dem Sessel steht ihr Heinz, wie sie ihn nannte, stützt sich mit den Ellbogen auf die Sessellehne und blickt ernst hinab auf seine Eroberung. Neben Mutter sitze ich in heller, kurzer Hose und im weißen Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln zu ihrer Rechten auf der Armlehne, was sicher ziemlich unbequem war, und blicke mit zusammengezogenen Augenbrauen kritisch zur Kamera (vermutlich wurde die Aufnahme mit Stativ und Selbstauslöser gemacht27). Meine helle, für einen Achtjährigen sehr unpraktische Kleidung trug im Zusammenhang mit den offenen Sandalen offenbar nicht dazu bei, mich in dieser Situation zu freuen.

Überhaupt war Mutti, wie sie genannt werden wollte (Vater wünschte sich übrigens bis ins hohe Alter von neunzig Jahren Vati genannt zu werden.) gar nicht so, wie ich erhofft hatte. Als ich zum Beispiel zum Muttertag von meinem spärlichen Taschengeld für ein paar Groschen ein Blumentöpfchen, ich glaube es war ein blau blühendes Usambaraveilchen, für sie kaufte und es ihr erwartungsvoll freudig überreichte, meinte sie, ich hätte das Geld lieber sparen sollen.

Als Schuljunge in Rotenburg an der Fulda

Bei meiner erneuten Einschulung sagte der Lehrer, Lesen könne ich auch aus der Zeitung lernen. Schulbücher gab es kaum. An der Wand zwischen zwei Fenstern neben meinem Platz hing ein Bilderrähmchen mit dem Text „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“.

Das Klassenfoto war natürlich ein wichtiges Ereignis für unsere Klasse der Jacob-Grimm-Schule. Wir freuten uns über die Unterrichtsunterbrechung. Die Jungs mussten sich auf eine Bank stellen. Natürlich war ich schon immer der längste. Stolz trug ich auch bei dieser Gelegenheit meine schwarze Ski-Mütze, um die ich bei Mutti lange gekämpft hatte. Sie wollte mich eine Zeit lang zu einer weißen Baskenmütze überreden, mit der ich mich aber vor den anderen Jungen doch nicht sehen lassen konnte!

Im Unterricht schrieben wir anfangs noch mit Griffeln auf Schiefertafeln. Für Fehlerberichtigungen und Wegwischen mussten wir immer ein nasses Schwämmchen dabei haben. Im zweiten Schuljahr durften wir dann mit wunderbar bunten Federhaltern und Tinte in Hefte schreiben. Dabei konnte man ja die Fehler nicht mehr einfach wegwischen und es gab, bis die ersten Füller aufkamen, manchen hässlichen Klecks, wenn das gläserne Tintenfass zu voll oder fast leer war. Unser Klassenlehrer übte mit uns für die Aufsätze auch den Schreibstil: Mit dem Satz „Tuen tut man mit der Tute!“ gewöhnte er uns an, für „tun“ möglichst viele andere Verben zu verwenden.

In den Pausen gab es Schulspeisung, die von Amerikanern gespendet worden war. Hessen lag ja wie Bayern in der amerikanischen Besatzungszone. Davon wurden wir aber meistens nicht satt. Deswegen bekamen wir auch Pausenbrote mit. Meine waren oft mit ungesalzenem Schmalz bestrichen. Zuhause glaubte man nämlich, ohne das Salz hätte ich weniger Durst und würde nicht so viel trinken, weil ich doch die „schwache Blase“ hatte. Aber es gab ja in der Schule Wasserhähne, zum Beispiel auf dem Klo.

Auf dem Schulhof riefen sie mich „Lulatsch“. Das kam daher, dass ich nicht nur in der Klasse der Längste war und deswegen immer ganz hinten sitzen durfte. Bei den Keilereien in den Pausen musste man aufpassen, nicht auf den Boden zu kommen, weil der, wie heute noch manche Feldwege, nur mit Schotter und Split bestreut war. Meine langen Arme und die Fäuste hielten meist schon mehrere Gegner erfolgreich auf Distanz.

Vierzehn Äpfel

In jenem Sommer nach der Heirat legte Mutter mir einmal vierzehn Äpfel auf das Sims eines Schrankes, der in dem Dachzimmerchen von „Voigts Erika“ stand, der Vermieterin. Damals war ich acht Jahre alt. Sie sagte: „Wenn Du jeden Tag einen isst, dann weißt du beim letzten, dass wir an dem Tag wiederkommen.“

So war es dann auch. Das bedeutete nicht unbedingt Familie, aber es war ganz passabel. Mittagessen bekam ich solange in einer Gaststätte, der sie zuvor ein entsprechendes Abonnement bezahlt hatten. Alles andere, das Aufstehen, Waschen, Anziehen, Frühstück und Abendessen, blieb mir überlassen. Nein, ich kam mir nicht wirklich verlassen vor, eher hatte ich ein Gefühl von Freiheit und Abenteuer. Es war ein wundervoller Sommer und ich konnte am nahen Fulda-Ufer mit anderen spielen, dann abends lange auf der Fensterbank sitzen und lesen, bis es dunkel wurde. Niemand befahl mir etwas, und niemand verbot mir etwas.

Ein anderes Mal „verpfiffen“ mich Nachbarn, nachdem die beiden von einer Tour mit der Marionettenbühne zurückgekehrt waren, weil ich aus einer an der Straße stehenden vollen Mülltonne die obendrauf liegenden wunderschönen, roten Apfelschalen geklaubt und gegessen hatte.

Auch später, als wir beim Rotenburger Ortslandwirt Papst einquartiert waren, da war ich dann neun Jahre alt, wurde ich wieder öfters wochenweise alleine gelassen, weil Mutti wieder mal bei der Marionettenbühne „Die Holzköppe“, beheimatet in Steinau an der Straße, aushalf, mit der Onkel Heinz mit Goethes Faust über Land zog und sie auch dazu verdiente.

Ich erinnere mich noch genau, wie das elektrische Licht in der Deckenlampe eines Abends plötzlich ausging. In meiner Ahnungslosigkeit holte ich beim Kaufmann an der Ecke nacheinander etwa fünf neue Glühbirnen, aber alle brannten nicht. Da ich ja kein Geld hatte, ließ ich anschreiben. Das kannte ich von den bisherigen kleinen Einkäufen für die Familie. Die vermeintlich nicht funktionierenden Birnen vergrub ich nacheinander im Ascheneimer.

Nach einer Woche kamen sie wieder, aber erzählte ich nichts davon, denn ich hatte Angst, weil ich die Glühbirnen ja nicht bezahlt hatte. „Onkel Heinz“ schraubte als erstes im Flur eine neue Sicherung rein. Zwanzig Pfennige kostete die. Der Kaufmann aber verlangte natürlich von ihnen das Geld, und so wurde ich denn gefragt, was es mit den fünf Birnen auf sich gehabt hätte.

Daran, dass sie nicht mit mir geschimpft haben, merkte ich, dass Mutti und „Onkel Heinz“ bei der Sache anscheinend selbst nicht ganz wohl war. Heute darf ich vermuten, dass beide ein schlechtes Gewissen hatten und froh waren, dass nichts Schlimmeres passiert war.

Als ich dann einmal im November meines neunten Lebensjahres – scheinbar war wieder einmal kein Erziehungsberechtigter vorhanden – Passanten und Nachbarn aufgefallen war, weil ich sie abends auf der Straße mit einer selbst gebastelten Maske erschreckt hatte, wurde ich auf Vermittlung des Rotenburger Dekans, bei dem ich schon vorher in den Kindergottesdienst gegangen war, nach Imshausen bei Bebra in ein damaliges Kinderhaus gebracht.

Dort, nahe der Zonengrenze, waren schon einige Kinder gestrandet. Hausherrin war Vera von Trott zu Solz. Ihr Bruder Adam war als Widerstandskämpfer 1944 ermordet worden.

Ich blieb dann sechseinhalb Jahre und fühlte mich auch wie zu Hause. Bis auf den Schluss, als man mich sechzehnjährigen, pubertierenden Jüngling wegen eines eigentlich harmlosen Techtelmechtels mit einer drallen Blonden loswerden wollte.

Anmerkungen:

* „Von der Reue“, a) in: Montaigne Essais, Hg. R. R. Wuthenow, Frankfurt a. Main 1980, 2. Aufl., S. 189; b) in: „Vom Schaukeln der Dinge“ – Montaignes Versuche, Hg. Mathias Greffrath, Berlin 1984, S. 42 ff

** s. b), ebda.

1Diesen Sachverhalt fand ich bei meiner Suche im Internet heraus.

2Diesem Schriftstück, von mir wegen seines meinen Vater vielfach ausführlich diffamierenden Inhalts PAMPHLET genannt, entnahm ich die hier zitierten Einzelheiten im Zusammenhang mit meiner Entstehung.

31995, er wurde 90 Jahre alt.

4Das müsste demnach etwa 1935 entstanden sein.

5Der Vergleich mit einem Urlaubsbild von 1964 zeigt analoge Gesichtszüge.

6s. nachfolgende Selbstauskunft der Mutter, die ich wegen der herabsetzenden Passagen als „Pamphlet“ bezeichnete.

7 Mit Kopierstift von Großmutter Zimmermann in Sütterlinschrift auf Feldpostpapier geschrieben, was oft die Entzifferung erschwert; wörtliche Abschrift, soweit wie möglich; auf der Rückseite macht auch der braune Feldpostaufdruck manche Worte unleserlich: „?“)

8Die Mutter hatte den Rufnamen Eleonore, verkürzt Lore

9 Wegen Ausbombung in Münster

10 Nationalsozialistische Volkswohlfahrt

11 Vaters älterer Bruder u. dessen Frau Hilde

12Die Frau des jüngeren Bruders meines Vaters

13Paul und Hedwig Zimmermann hatten schon 1943 die in Münster ausgebombte Schwiegertochter in ihrer Dresdener Wohnung aufgenommen.

14Herbert Wendt (* 16. Mai 1914 in Düsseldorf; † 26. Juni 1979 in Baden-Baden) war ein deutscher Schriftsteller. 1939 wurde er als Kriegsberichterstatter zur Marine eingezogen und schrieb in dieser Zeit zahlreiche Reportagen, aber auch ein von der Marineleitung erbetenes Buch, „Der Kampf um die Ostsee“ (1943), in dem die Eroberung der baltischen Staaten im Sommer 1941 nachgezeichnet wurde. Nach einer schweren Verwundung vor Kreta kehrte Wendt 1943 nach Berlin zu seiner Familie zurück. Nach dem Ende des Krieges war er Mitglied des Antifaschistischen Komitees in Berlin und schrieb für den Aufbau-Verlag. Durch seine schriftstellerischer Tätigkeit sowie die Arbeiten seiner Frau, der Schriftstellerin und Journalistin Ingeborg Wendt, kam er mit Lion Feuchtwanger und Arnold Zweig, später auch mit Bertolt Brecht in engeren Kontakt. (nach Wikipedia)

15Wendt hatte als junger Mann in den 30-er Jahren einige Zeit in der Dortmunder Wohnung von Lores Eltern zur Untermiete gelebt und war nach Tante Marias Informationen ihr Jugendschwarm.

16Der Ort liegt etwa 10 km elbabwärts von Dresden.

17Dass die Mutter zu diesem Zeitpunkt noch lebte, bestätigte sich ja später. Am 17. Februar hatte ich Geburtstag und wurde 4 Jahre alt! Daran muss doch jede Mutter denken. Welchen Schluss Vater aus dieser Mitteilung seiner Schwägerin zog, ist auch bekannt: Sie war als Mutter offenbar unfähig. Aber sie muss ihre entsprechenden Gedanken und Entschlüsse in die zeitlebens geführten Tagebücher geschrieben haben. Denn nach Ihrem Tod kämpfte „Onkel Heinz“, auch „Nö“ genannt, später als Witwer sogar gerichtlich gegen mich, damit ich sie nicht noch zu seinen Lebzeiten lesen konnte. Und als ihn schließlich das Zeitliche gesegnet hatte fand ich heraus, dass ausgerechnet jene Seiten ihrer Berliner Zeit mit Herbert Wendt herausgerissen bzw. jedenfalls entfernt waren. Die geradezu extensive Ausführlichkeit und beschriebene Emotionalität der Eintragungen über die spätere Nachkriegs- und beginnende Wirtschaftswunderzeit lässt nur den Schluss zu, dass sie so seit jeher geschrieben hatte.

18 Oberkommando der Wehrmacht

19Schwägerin

20Erst jetzt konnte Tante Maria den Brief abschicken.

21Also war er nicht mehr an der Italienfront.

22s. die Briefe von Großmutter Zimmermann und Tante Maria an den Vater.

23Vermutlich handelte es sich um den Freund von jener Kindergärtnerin Tante Thea, der sich vielleicht im Fronturlaub bei ihr aufhielt.

24Dies Leiden endete für mich erst als ich etwa 22 Jahre alt war, nachdem mir Tante Maria als ich sie besuchte ausführlich die Zusammenhänge erzählt hatte.

25 Inzwischen habe ich gemerkt, dass diese Einstellung dazu führte, Vorhaben und gewünschte Ziele, die nicht zur notwendigen Alltagsbewältigung passten, immer wieder aufzuschieben.

26Währenddessen war ich, nachdem Mutter mich 1947 in Planegg bei München vom Vater abgeholt hatte und ich zunächst ein halbes Jahr bei ihren Eltern in Witten gelebt hatte, ebenfalls ein halbes Jahr in einem katholischen Kinderheim im Schwarzwald untergebracht.

27Zeit seines Lebens war Onkel Heinz, oder wie ich ihn später nannte: Nö, ein leidenschaftlicher Foto-Amateur, der sich eine Zeit lang sogar die jeweils neueste Kleinstbildkamera MINOX leistete.