Mal Glück, mal Pech – auch Heimat, „daheim“!

„Sieh das doch nicht so idealistisch!“ sagte mein Freund Heinz, als er meinen Beitrag Migration und – ja, Heimat – lauter Versuche gelesen hatte, zu mir. „Ist doch nur Eiapopeia. Auch wenn es mit Migration zu tun hat. Das ist ein tiefer liegendes Problem. Was meinst du, warum es Dafür sogar Ministerien in den USA oder Deutschland gibt?“

Na ja. Gerade, kurz nachdem ich begann darüber zu nachzudenken, entdeckte ich einen eher ironisch gemeinten, ganz anderen Aspekt zum Thema, einen zunächst sogar nur lokalpolitischen Artikel über Geschäftemacherei, Kapitalismus eben, mit den Begriffen Heimat und daheim:

https://www.jungewelt.de/artikel/485880.der-mensch-muss-trinken-wo-man-sich-aufh%C3%A4ngt.html

Ob Bundespräsident oder Kneipier: Werbung, Propaganda, Wörter-Missbrauch, wohin man schaut! Die Begriffe Heimat und daheim können eben immer auch falsche Versprechungen enthalten.

Migration und – ja, Heimat – lauter Versuche

Was ist deine Heimat? „Äthiopien, Deutschland ist die zweite“, bekennt Biruk Mengistu Kebede mit einem nachdenklichen Lächeln, der – weil daheim politisch verfolgt – seit 2015 hier lebt. Von ihm hängen in der Bad Wildunger Stadtkirche unter dem Titel „Heimat“ derzeit bis zum 20. Oktober dieses Jahres mehrere seiner eindrucksvollen Gemälde. Jene mit den Frauenfiguren, meist Schwestern Kebedes und deren Freundinnen, strahlen eine eigentümliche Sehnsucht aus.

Was ist noch – oder schon – Heimat? Einen Migrationshintergrund haben ja genau genommen in Deutschland nicht nur Asylbewerber, Kriegs- und Armutsflüchtlinge. Oder „Gastarbeiter“ aus Spanien, Griechenland, Italien und der Türkei kamen als Menschen. Sie haben jetzt auch Familien, teilweise schon in der dritten Generation.

„Die Auseinandersetzung darüber, welchen Begriff von Heimat wir verwenden wollen, was wir meinen, wenn wir uns über Heimat unterhalten oder auch streiten, ist ein Schlüssel für die Kultur einer kommenden Gesellschaft. Die extreme Rechte versucht, den Begriff seit geraumer Zeit im Sinne einer „völkischen“ Ideologie von „Blut und Boden“ zu besetzen und sie als politische Waffe gegen einen angeblich heimatlosen, verräterischen Liberalismus einzusetzen, der nur kosmopolitisches und grenzenloses Chaos verspreche. Gleichzeitig freilich ist „Heimat“ ein Geschäftsmodell, das Tourismus, mediale Heimatfantasien und industrielle Folklore gewinnbringend einsetzt.

Diesem zweifachen Missbrauch kann man begegnen, indem man den anderen, den humanistischen, offenen und utopischen Begriff wieder in sein Recht setzt, der genauso tief in unserer Kultur verankert ist wie der regressive und chauvinistische. Für einen allgemeinen Dialog wäre schon viel gewonnen, wenn uns klar ist, wie viele unterschiedliche Dinge gemeint sein können, wenn von Heimat die Rede ist.“ So Markus Metz und Georg Seeßlen in: Heimat – der offene Begriff; Deutschlandfunk.

Hierher gehört jetzt ein ganz aktuelles Zitat von Heribert Prantl, dem Juristen und Kolumnisten der Süddeutschen Zeitung, vom 06.10.2024 in seiner online-Kolumne „Prantls Blick“:

Ein Aha-Erlebnis nach dem anderen
Keiner kann dem Autor Hein de Haas vorhalten, er wisse nicht, wovon er rede. Ich hätte es an einigen Stellen gern getan, gebe ich zu. Zu wissen, wovon man redet, ist immer wichtig, besonders aber, wenn es um Migration geht. Das ist ein Thema, bei dem die meisten meinen, sie wüssten Bescheid, bei dem Wissensstärke und Meinungsstärke aber oft nicht Hand in Hand gehen. Der niederländische Sozialwissenschaftler und Geograf Hein de Haas forscht seit drei Jahrzehnten zum Thema Migration, nicht nur vom Schreibtisch aus, sondern in zahlreichen Feldstudien weltweit. Er lehrte in Oxford, wo er auch die Co-Leitung des International Migration Institute innehatte, und ist gegenwärtig Professor für Soziologie in Amsterdam und Professor für Migration in Maastricht. De Haas ist also hochkompetent, und er ist stinksauer darüber, wie die Diskussion geführt wird, nämlich als Pro-und-Kontra-Debatte für oder gegen Migration. Dies sei ähnlich dumm, wie für oder gegen Wirtschaft, für oder gegen Landwirtschaft oder für oder gegen Umwelt zu diskutieren, stellt er fest.

Sein Ärger ist einer der Gründe, warum de Haas sein Buch geschrieben hat: „Migration. 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt.“ Das Buch ist so stark und so lehrreich, dass es eine längere Besprechung verdient, als sie hier an dieser Stelle üblich ist.  „Wie oft ist es mir passiert“, schreibt de Haas,  „dass Politiker im Anschluss an einen Vortrag auf mich zukommen, mir zu meinem ‚großartigen Vortrag‘ gratulieren und im selben Atemzug hinzufügen: ‚Das könnten wir natürlich niemals umsetzen, das wäre ja politischer Selbstmord.‘ Daher wende ich mich in diesem Buch direkt an Sie, die Bürgerinnen und Bürger“.  Das Buch von Hein de Haas empfehle ich Ihnen nicht, weil es mich in meinen eigenen Meinungen bestärkt – das tut es durchaus, aber manchmal auch nicht. Ich empfehle es Ihnen, weil es mich in einigen meiner Meinungen irritiert und mein vermeintliches Wissen korrigiert hat. Wenn de Haas am Anfang seiner Kapitel (die man übrigens nach Gusto jedes für sich lesen und auch einige überspringen kann) den jeweiligen Migrationsmythos darstellt, habe ich mich manches Mal ertappt gefühlt: Das denkst du doch auch … 

Ein Beispiel: Auch ich meine, Entwicklungshilfe, Bildung, Armutsbekämpfung seien Mittel, Migration einzudämmen. Schließlich verbessere man damit die Bedingungen in den Herkunftsländern und vermindere Faktoren, die die Menschen zum Verlassen ihrer Heimat zwingen – denn eines der Hauptmotive von Zuwanderern sei, dem Elend zu entkommen. So dachte ich. Nach de Haas weit gefehlt: Zunächst sei Entwicklung ein Motor für Migration, weil er die Menschen erst in Stande setze, mobil zu werden, sowohl was ihre Ressourcen, als auch was ihre Motivation betreffe. Erst wenn ein Land ein gewisses Maß an Wohlstand erreicht hat, wird es von einem Auswanderungsland zu einem Einwanderungsland, siehe Italien. Überhaupt sind, folgt man de Haas, nicht Armut und Ungleichheit die Treiber für Migration, die ohnehin überwiegend Binnenmigration und nicht Richtung Europa gerichtet ist. Treiber für Zuwanderung, sowohl für erwünschte als auch für unerwünschte, ist die Nachfrage nach Arbeitskräften in Einwanderungsländern. De Haas nennt es das bestgehütete offene Geheimnis der westlichen Gesellschaften, dass Arbeitgeber und Personalagenturen aktiv um ausländische Arbeitnehmer werben, weil Migranten wichtige Arbeiten in systemrelevanten Branchen übernehmen. Zuwanderungsbeschränkungen werden deswegen die Zuwanderung nicht aufhalten; sie sorgen nur dafür, dass die illegale Zuwanderung steigt: „Politikern fällt es schwer, diese Wahrheit auszusprechen, denn damit würden sie ihrer Behauptung widersprechen, dass es für diese Migranten keine Arbeit gibt. Das ist eine Lüge, und das wissen sie auch. Die Wahrheit ist, dass unsere reichen, alternden und gebildeten Gesellschaften eine strukturelle Nachfrage nach Arbeitsmigranten entwickelt haben, die sich nicht beseitigen lässt, solange das Wirtschaftswachstum anhält. So gesehen ließe sich die Zuwanderung am wirkungsvollsten drosseln, indem man die Wirtschaft abwürgt.“

Wie gesagt, dies ist ein Beispiel.

Gönnen Sie sich ein Aha-Erlebnis nach dem nächsten und die Freude, sich irritieren und korrigieren zu lassen und am Ende etwas schlauer zu sein. Gönnen Sie sich einen rasanten Ritt durch die Geschichte der Migration und ihre unterhaltsam aufklärerische Entmythologisierung. Gönnen Sie sich Hein de Haas‘ neues Buch, das sich lesen lässt wie ein Schmöker – und das einen durchaus optimistisch zurücklässt.

Hein de Haas, Migration. 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt. Das Buch hat 512 Seiten und ist im vergangenen Herbst im Fischer Verlag erschienen. Es kostet 28 Euro.